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Stehaufmaennchen

Stehaufmaennchen

Titel: Stehaufmaennchen
Autoren: Markus Maria Profitlich
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November 1968
    Räumungsverkauf. Habe Plakat gemalt. »Meerschweinchen! Alles muss raus! Stück 1 Mark«. Räume meinen Freunden Kredite ein, und am Abend bin ich stolzer Besitzer von 135 Schuldscheinen à 1 Mark. Viel später erfahre ich, dass eineMeerschweinchenschwemme unser Dorf heimgesucht haben soll. Man musste sogar einen Kammerjäger holen. Das wäre mit einem Drachen nicht passiert.

8. Mut in Stalingrad

25. Juli 1969
    Heute eine Zigarette geraucht. Als Mutprobe. War tatsächlich sehr mutig, denn ich konnte die Folgen nicht absehen. Sonst hätte ich die Zigarette nämlich auf dem Klo sitzend geraucht und nicht auf dem Schulhof stehend.
    Zuhause muss ich direkt unter die Dusche. Keiner lobt mich wegen meiner Tapferkeit. Im Gegenteil. Kriege Schimpfe, weil ich mich so eingesaut hab. Dabei ist Mut im Leben wichtig. Gerade letzte Woche hat Neil Armstrong auf dem Mond großen Mut bewiesen. Denn er ist aus seiner Kapsel ausgestiegen undhat nicht gekniffen, weil er Angst hatte, sich auf dem Mond die Klamotten einzusauen.
    Opa ist der Einzige, der nicht wegen meiner Zigarettenmutprobe mault. Er hätte auch als Kind schon geraucht und es hätte ihm nicht geschadet. Dann zündet er sich eine Zigarette an und bekommt einen Hustenanfall. Wenn Opa einen Hustenanfall bekommt, ist das wie eine Vulkanexplosion. Nur, dass Opa keine Asche spuckt.
    Der Husten käme aber nicht vom Rauchen, sagt Opa, sondern von Stalingrad und vom Skorbut.
    Skorbut ist, wenn man nix zu essen hat. In Stalingrad hatte Opa nix zu essen. Außer Dreck. Und wenn er sich mal was Leckeres gönnen wollte, hat er auch schon mal einen Tannenzapfen gegessen. Ja, so schlimm war Stalingrad. Opa klopft auf sein Holzbein. Ein Andenken an Stalingrad. Bin beeindruckt.
    Opa erzählt, dass er das Holzbein bekam, weil er sein echtes Bein verloren hat. Wie kann man ein Bein verlieren? Ein Matchboxauto kann man verlieren, aber ein Bein? Das ist doch angewachsen. Ich hab noch keinen in der Schule getroffen, der morgens mit nur einem Bein ankam, weil er sein anderes Bein im Schulbus vergessen hat.
    Opa klärt mich auf. Das käme vom Krieg. Da muss man sehr mutig sein und seine Angst bezwingen. Opa war der Mutigste in ganz Stalingrad, denn er hat viele Orden bekommen. Eiserne Kreuze. Toll! Opa bekommt einen weiteren Hustenanfall. Bezwinge meine Angst und bleibe mutig in Opas Spuckeregen sitzen. Ob ich jetzt auch ein Eisernes Kreuz bekomme?
    Nachdem Opa sich leer gehustet hat, erzählt er die Geschichte von seinem Bein. Wie er im Schützengraben gelegen hat und alleine gegen hundert Russen kämpfen musste, um seine Kameraden zu schützen, die hinter ihm Tannenzapfen suchten. Opa fängt an zu weinen, trinkt einen Schnaps und erzählt weiter. Von der schrecklichen Stalinorgel und dass er sich vor Angstfast in die Hose gemacht hätte. Ich fühle mit Opa. Denn heute Morgen noch hab ich mir ja selber in die Hose gemacht. Aber nicht aus Angst, sondern aus Mut. Und dass so eine Orgel Angst macht, kann ich auch verstehen. Wenn der Küster in der Kirche Hindurch, hindurch mit Freuden spielt, möchte ich auch immer davonlaufen.
    Eine Stalinorgel ist aber kein Musikinstrument, sondern spuckt Raketen. Und das würde ungefähr so klingen. Opa macht das Geräusch der Stalinorgel nach und bekommt vor Anstrengung einen Hustenanfall. Stehe unter Spuckebeschuss und male mir aus, wie schlimm es ist, unter Raketenbeschuss zu stehen. Opa muss ein Held gewesen sein!
    Eine Rakete hat sein Bein zerfetzt. Er ist dann aber noch mindestens zwanzig Kilometer durch den Schnee gekrochen, um einen Arzt zu suchen. Er hat aber keinen gefunden, der ihm helfen konnte. (Muss wohl an einem Mittwochnachmittag passiert sein.) Deswegen musste Opa sich das Bein selbst amputieren. Amputieren ist, wenn man sich ein Körperteil abschneidet. Das kenn ich. Samstagnachmittags krieg ich immer die Fingernägel amputiert.
    Opa hat für seine Amputation sogar dasselbe Werkzeug benutzt. Eine Nagelschere, denn die Soldaten hatten nichts anderes mehr. Außer Tannenzapfen. Aber die waren nicht scharf genug. Bewundere Opa immer mehr.
    Und dann diese Schmerzen! Ob er denn keine Spritze hatte? Nein, sie hatten ja nichts. Elf Stunden lang hat er sich das Bein abgeschnippelt. Opa fängt wieder an zu weinen und trinkt einen Schnaps. Bin tief beeindruckt und sehr stolz, so einen Helden in der Familie zu haben. Von Opas Bein kann sich so mancher eine Scheibe abschneiden! Wenn ich groß bin, will ich mir auch ein Bein
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