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Staub zu Staub

Staub zu Staub

Titel: Staub zu Staub
Autoren: Olga A. Krouk
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Besuch ganz aufgedreht.“ Sie nahm Mirjam die Wäsche ab. „Ich bring das schnell weg. Bin gleich wieder bei dir.“
    „Lass dir ruhig Zeit“, knurrte Mirjam und folgte dem Klang der Geige, der aus Preschkes Zimmer drang. Vivaldi. Die Vier Jahreszeiten. Hätte Kristin Carsten zu seiner alten Mutter gelassen, wenn diese Geige im entscheidenden Moment etwas anderes gespielt hätte? Was für ein seltsamer Gedanke. Wie konnte sie für Kristins Gefühllosigkeit ein Instrument verantwortlich machen?
    Mirjam schritt ins Zimmer und schaltete die Musikanlage aus. „Es ist schon viel zu spät für Vivaldi, Mozart und Co.“
    Der alte Mann lag im Bett, die Hände auf der Brust gefaltet, als wäre er in einem Sarg aufgebahrt, und starrte auf das Kruzifix – den einzigen Gegenstand, der die weißen Wände schmückte. Nur die Bewegungen seiner Lippen deuteten noch auf Leben hin, das in ihm schlummerte. Mirjam ging zu dem gekippten Fenster. Eine abendliche Brise wölbte die Tüllgardinen. In der Stille vernahm sie das Flüstern des Alten.
    „Verkauft habe ich ihn. Für dreißig Silberlinge habe ich ihn verkauft.“
    Obwohl Preschke meist nur wirres Zeug redete, spürte sie eine tiefere Bedeutung in seinen Worten. Genauso wie in den ‚Vier Jahreszeiten’, denen er tagaus tagein lauschte, oft weinend, bis irgendjemand die Musik abschaltete. Sie schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Den Stuhl, der sonst immer ungenutzt hinter dem Schrank verstaubte, hatte jemand an das Bett gezogen.
    „Herr Preschke?“ Mirjam streifte über seine Hand, deren Haut sich wie Pergament anfühlte, das gleich reißen würde. „Möchten Sie mir etwas darüber erzählen?“
    „Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen“, stieß er hervor. „Sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen.“
    „Aber ich möchte Sie verstehen. Wirklich.“ Sie spürte den leichten Händedruck und hielt inne. Nur selten gelang es ihr, den Schleier seiner geistigen Verwirrung zu durchdringen. „Erzählen Sie mir davon.“
    Preschke musterte sie mit seinen hellblauen Augen. Ein trüber Tropfen kullerte seine Schläfe herunter und hinterließ einen Fleck auf dem Kissen.
    „Ich habe Wunder und Zeichen gesehen. Und ich habe ihn verraten. Für den Judaslohn habe ich ihn verkauft.“ Sein Atem zischte, der Brustkorb hob und senkte sich schneller. Preschke umklammerte ihre Hand. „Sie waren hier und haben ihn gesucht. Aber noch einmal werde ich ihn nicht verraten. Nein, nein.“
    „Verraten? Wen? Wer war hier?“
    „Inter spem et metum“, keuchte er. „Inter spem et metum.“
    Es klang wie Latein. Der alte Mann konnte Latein? Wie wenig sie doch über ihn wusste. Über jeden Einzelnen in diesem Heim.
    „Was bedeutet das? Inter spem et metum.“
    Seine Augen zuckten hin und her, er lauschte und hob seinen Kopf an. „Zwischen …“
    Die aufschlagende Tür und das Klappern des Rollwagens unterbrachen ihn.
    „Na, was ist denn das für eine Gruppenkuschelei?“, flötete Kristin. „Darf ich auch mitmachen?“
    Mirjam schreckte zurück. Warum ausgerechnet jetzt? Wo er so nah dran war, ihr etwas zu erzählen!
    „Und siehe!“ Preschke fuhr mit seinem Zeigefinger durch die Luft, als wolle er auf eine Sternschnuppe deuten. „Ein Mädchen kam heran und brachte den Leib einer Katze zu ihm. So streckte er die Hand aus, rührte sie an und sprach: Wenn es Sein Wille ist, so sei dir gegeben, was du dir wünschst. Und er verbot, jemandem davon zu erzählen. Doch je mehr er’s verbot, desto mehr breitete es sich aus.“
    Kristin kicherte. „Also, das habe ich auch noch nicht gehört. Jesus heilte Katzen?“
    In einem Lächeln entblößte Preschke sein Gebiss und flüsterte, als würde er ein großes Geheimnis verraten: „Zucker. Er braucht Zucker.“
    „Ah, verstehe.“ Kristin grinste noch breiter. „Ein Zucker mampfender, Katzen heilender Jesus. Sachen gibt’s.“
    Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht. „Kehrt um!“ Seine spröden Lippen zitterten. „Das Himmelreich ist nahe - haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet. Er ist gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen.“
    Kristin nickte. „Alles klar. Man spielt ja auch nicht mit Streichhölzern.“
    So sehr Mirjam auch das Gerede über den Menschensohn zuwider war, ertappte sie sich bei dem Wunsch, Kristin an den Schultern zu packen und durch-zuschütteln. Sie bezweifelte allerdings, diese Fleischmasse nur ein Stück bewegen zu können.
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