Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst
Autoren: Alain de Botton
Vom Netzwerk:
zu vergleichen, oder mindert die Wirkungen des Vergleichs.«
     

 
4
     
    Daraus folgt: Je mehr Menschen wir als gleichrangig erachten und zum Maßstab nehmen, umso mehr Veranlassung zum Neid haben wir.
    Dass die großen Umwälzungen des 18. und 19 .Jahrhunderts trotz einer gewaltigen Steigerung des materiellen Wohlstands zu vermehrtem psychischen Druck geführt haben, ist auf das neue Ideal zurückzuführen, von dem sich diese Umwälzungen leiten ließen: auf den Glauben an die Gleichheit aller Menschen und an die unbegrenzte Möglichkeit eines jeden, alles zu erreichen.
    In den vorausgegangenen Epochen hatte die gegenteilige Annahme vorgeherrscht: Ungleichheit und bescheidene Erwartungen galten als normal und als weise Einrichtung. Nur die Allerwenigsten waren zu Reichtum und Erfolg berufen. Die große Mehrheit wusste nur zu gut, dass sie dazu verdammt war, sich in das Los der Ausbeutung zu schicken.
    »Es ist klar, dass manche Menschen von Natur aus frei und andere von Natur aus Sklaven sind und dass für die letzteren die Sklaverei sowohl Notbehelf als auch Recht bedeutet«, hatte Aristoteles in seiner Politik (350 v. Chr.) erklärt — im Einklang mit fast allen griechischen und römischen Denkern und Herrschern. In der Antike wurden die Sklaven und Arbeitenden als Geschöpfe von minderem Verstand betrachtet, die daher von Natur aus zu einem tristen Leben verurteilt waren wie die Ochsen im Joch. Den Gedanken, dass auch ihnen Rechte und menschliche Regungen zustanden, hätten die Eliten nicht weniger absurd gefunden als nach Geisteszustand und Glücksempfinden eines Hammers oder einer Sense zu fragen.
    Der Glaube an die gottgewollte oder wenigstens unabänderliche Ungleichheit wurde oft auch von den Unterdrückten selbst geteilt. Mit der Ausbreitung der christlichen Lehre im späten Römischen Reich wurden viele zu Opfern einer Religion, die ihren Anhängern beibrachte, ungleiche Behandlung als Teil der natürlichen, unabänderlichen Ordnung zu akzeptieren. Trotz der egalitären Grundzüge des Christentums ließen seine politischen Vertreter kaum den Gedanken aufkommen, dass die sozialen Verhältnisse im Sinne einer gerechteren Verteilung der irdischen Güter reformiert werden könnten. Vor Gott mochten alle Menschen gleich sein, aber das war schließlich kein Grund, schon auf Erden nach Gleichheit zu streben.
    Für die christlichen Theologen hatte die Gesellschaft daher die Form einer streng gegliederten absoluten Monarchie, die angeblich die Hierarchie des Himmelreichs widerspiegelte. So wie Gott absolute Macht über alle Geschöpfe ausübte, von den Engeln bis hinab zur kleinsten Kröte, sollten auch seine berufenen Sachwalter auf Erden über eine Gesellschaft herrschen, in der Gott allem und jedem seinen Platz zugewiesen hatte, vom Edelmann bis zum geringsten Ackerknecht. Einem englischen Adligen des 15.Jahrhunderts wegen dieser Haltung Snobismus vorzuwerfen wäre abwegig gewesen. Eine kritische Sicht auf die Ungleichheit konnte erst entstehen, als ein egalitäres Menschenbild in den Bereich des Vorstellbaren gelangte.
    Sir John Fortescue, ein englischer Rechtsgelehrter des 15.Jahrhunderts, verlieh lediglich der allgemein herrschenden Sicht Ausdruck, als er erklärte: »Vom höchsten bis zum niedrigsten Engel gibt es keinen, der nicht ohne einen oberen und unteren ist; auch vom Menschen hinab bis zum geringsten Wurm gibt es kein Geschöpf, das nicht über dem einen und unter dem anderen steht.« Die Frage, warum die einen dazu verdammt waren, den Acker zu bestellen, während andere in Bankettsälen schmausen durften, wäre im Rahmen dieser Ideologie einem Angriff auf die göttliche Ordnung gleichgekommen.
    Der mittelalterliche Theologe Johannes von Salisbury schrieb 1159 die Abhandlung Policraticus, in der er die Gesellschaft mit einem Körper verglich, und er benutzte die Analogie dazu, das System der natürlichen Ungleichheit zu rechtfertigen. Seiner Darstellung zufolge konnte jeder Teil des Staates einem menschlichen Körperteil zugeordnet werden: Der Herrscher war der Kopf, das Parlament das Herz, der Hofstaat bildete die Seiten, die Offiziere und Richter waren Augen, Ohren und Zunge, der Bauch mit den Eingeweiden stellte die Schatzkammer dar, die Armeen waren die Hände, Leibeigene und Hörige die Füße. Das Bild sollte veranschaulichen, dass jedem Mitglied der Gesellschaft eine unabänderliche Rolle zugewiesen war und dass der Wunsch eines Bauern, im Herrenhaus zu wohnen und mitzuregieren, genauso
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher