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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst
Autoren: Alain de Botton
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Life anzupreisen. Listig, wie er war, begann er nicht mit dem Thema Demokratie und Menschenrechte, sondern sprach von Geld und materiellem Fortschritt. Die Länder des Westens hätten es mit Hilfe von Fleiß und Unternehmergeist, so erklärte er, in nur zweihundert Jahren geschafft, das Elend zu überwinden, das bis zur Mitte des 18.Jahrhunderts geherrscht habe — und in anderen Teilen der Welt noch andauere. Die Amerikaner von heute besäßen 56 Millionen Fernsehapparate und 143 Millionen Radios, informierte er seine sowjetischen Zuschauer, von denen viele kein eigenes Bad oder auch nur einen Wasserkessel ihr Eigen nannten. Etwa 31 Millionen Amerikaner hätten ein eigenes Haus, und die amerikanische Durchschnittsfamilie könne sich jedes Jahr den Kauf von neun Kleidern und Anzügen und vierzehn Paar Schuhen leisten. In den Vereinigten Staaten könne man ein Haus in tausend verschiedenen Bauweisen bekommen. Und die meisten von ihnen seien größer als ein Fernsehstudio. Chruschtschow saß wütend neben Nixon, ballte die Fäuste und murmelte: »Njet! Njet!« — und Ohrenzeugen zufolge soll er hinzugefügt haben: »Job twoju babuschkuh (Fick deine Großmutter!)
     

 
2
     
    Doch Nixon hatte nicht gelogen. In den zwei Jahrhunderten, die seiner Rede vorausgingen, hatten die Länder des Westens eine radikale und nie da gewesene Steigerung ihres Lebensstandards erfahren.
    Die europäische Bevölkerung, in ihrer Mehrheit bäuerlich, hatte unter Armut, Unterernährung, Kälte und anderen Schrecken gelitten, und gestorben wurde, meist nach schwerer Krankheit, noch vor dem vierzigsten Lebensjahr. Nach einem Leben harter Arbeit bestanden die kostbarsten Besitztümer etwa in einer Kuh, einer Ziege oder einem Topf. Ständig lauerten Hunger und Krankheit; zu den häufigsten Plagen zählten Rachitis, Geschwüre, Tuberkulose, Lepra, Abszesse, Wundbrand, Tumore und Krebs.
     

    Nikita Chruschtschow und Richard Nixon bei der Besichtigung einer Musterküche des »Tadsch Mahal« in der Amerikanischen Nationalausstellung in Moskau 1959

 
3

    Zentrales Treppenhaus des Pariser Warenhauses Bon Marché, 1880
     
     
    Dann, im Großbritannien des frühen 18.Jahrhunderts, begann der große westliche Umwandlungsprozess. Dank neuer Landwirtschaftstechniken (Fruchtfolge, fachgerechte Viehzucht und Flächengewinnung) stiegen die Erträge steil an. Von 1700 bis 1820 verdoppelten sich die britischen Landwirtschaftserträge, es wurden Kapital und Arbeitskräfte frei, die in die Städte strömten und Industrie und Handel belebten. Die Erfindung der Dampfmaschine und des mechanischen Webstuhls revolutionierte nicht nur die Arbeitswelt, sondern steigerte auch die sozialen Erwartungen. Die Städte platzten aus allen Nähten. Um 1800 zählte einzig London mehr als hunderttausend Einwohner. Um 1891 hatten schon dreiundzwanzig britische Städte diese Marke überschritten. Waren und Dienstleistungen, die einst einer Elite vorbehalten gewesen waren, wurden Allgemeingut. Luxusartikel wurden zu normalen Annehmlichkeiten, Annehmlichkeiten zu Notwendigkeiten. Daniel Defoe, der 1745 durch Südengland reiste, bemerkte viele neue, große Geschäfte mit lockenden Auslagen. Nachdem sich die Mode jahrzehntelang gleich geblieben war, wurde es nun möglich, in jedem Jahr Novitäten zu kreieren (1753 war bei den Engländerinnen Purpur en vogue, 1754 wandelte sich die Mode zu Weiß mit rosa Mustern und 1755 zu Taubengrau).
    Im 19.Jahrhundert setzte sich das Wachstum fort, die britische Konsum-Revolution breitete sich aus. Riesige Warenhäuser eröffneten in Europa und Amerika: Bon Marché und Au Printemps in Paris, Selfridge's und Whiteley's in London, Macy's in New York.
    Dort konnten gewöhnliche Leute Wunderdinge kaufen, die zuvor nur Fürsten zugestanden hatten. 1902, bei der Eröffnungszeremonie des neuen zwölfstöckigen Marshai Field's in Chicago, verkündete dessen Direktor Gordon Selfridge: »Wir haben dieses großartige Gebäude für die einfachen Leute gebaut, auf dass es ihr Vorratsspeicher, ihre städtische Heimat, ihr Einkaufszentrum werde.« Das Kaufhaus sei nicht, wie er sagte, für die »Stinkreichen« bestimmt.
    Technische Neuerungen aller Art veränderten den Alltag und erweiterten den geistigen Horizont: Das alte, zyklische Verständnis der Welt, demzufolge jedes Jahr so verlief (und so schlecht verlief) wie das vorige, wich der Erwartung eines Fortschritts, der irgendwann zur Perfektion fuhren würde. Um nur ein paar dieser Erfindungen zu nennen:
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