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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst
Autoren: Alain de Botton
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erreichen, verzweifelten die meisten anderen im Lauf der Zeit, die Bitterkeit ersticke ihre Seelen, und ein tiefer Hass auf sich selbst und ihre Herren ergreife von ihnen Besitz.
    Die starre ständische Hierarchie, die fast alle westlichen Gesellschaften bis ins 18.Jahrhundert hinein beherrschte und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, jede Hoffnung auf sozialen Aufstieg zunichte machte, war, obwohl von Johannes von Salisbury und John Fortescue glorifiziert, in tausendfacher Hinsicht von krassem Unrecht geprägt, dennoch bot sie auch den Allergeringsten eine nicht zu verachtende Freiheit: die Freiheit, nicht die Erfolge von gar so vielen zum Vergleich heranziehen zu müssen - und den eigenen Status, die eigene Bedeutung folglich als beschämend dürftig zu sehen.
     

 
7
     
    In Amerika selbst ergründete William James wenige Jahrzehnte nach Tocquevilles Reise durch die Vereinigten Staaten aus psychologischer Sicht, warum seine Landsleute so sehr unter ihren unbegrenzten Erwartungen litten.
    Um Zufriedenheit zu erlangen, muss man nicht auf allen Gebieten erfolgreich sein, fand James heraus. Nicht jedes Scheitern wird als Schmach erlebt; dies geschieht erst, wenn wir unseren Stolz und Ehrgeiz in ein Unternehmen investieren und dann Schiffbruch erleiden. Unsere Ziele entscheiden darüber, was wir uns als Erfolg oder Misserfolg anrechnen. James, Psychologieprofessor in Harvard, richtete seinen ganzen Ehrgeiz darauf, in seinem Fach Hervorragendes zu leisten. Folglich empfand er Neid und Scham, wie er eingestand, wenn ihn jemand an Wissen übertraf. Da er sich aber nie zum Ziel gesetzt hatte, Altgriechisch zu lernen, ließ es ihn völlig kalt, wenn jemand Platons Symposion komplett übersetzen konnte, obwohl er selbst schon an der ersten Zeile gescheitert wäre.
    »Ohne Versuch gibt es kein Scheitern und ohne Scheitern keine Schmach. Unsere Selbstachtung hängt also ausschließlich davon ab, was wir uns vornehmen zu sein und zu tun. Sie wird bestimmt durch das Verhältnis zwischen unserem tatsächlichen Tun und den Möglichkeiten, die wir uns zuschreiben:
     

    Die Gleichung des William James illustriert, dass bei steigenden Erwartungen an uns selbst auch die Gefahr der schmählichen Niederlage steigt. — Unsere Einschätzung der eigenen Chancen auf Erfüllung steht und fällt mit dem, was wir für normal halten. Nur schwer zu übertreffen sind die Qualen eines einst berühmten Schauspielers, eines gestürzten Politikers oder — wie Tocqueville vielleicht hinzugefugt hätte — eines erfolglosen Amerikaners.
    In der Gleichung sind auch zwei Möglichkeiten verborgen, unsere Selbstachtung zu steigern. Entweder können wir versuchen, erfolgreicher zu sein, oder wir können unsere Ansprüche reduzieren. James verwies auf die Vorzüge letzterer Strategie:
    »Das Aufgeben von Erwartungen bringt genauso viel Erleichterung wie ihre Erfüllung. Es wird einem seltsam leicht ums Herz, wenn man sich mit seinem Versagen auf einem bestimmten Gebiet abfindet. Wie glücklich der Tag, an dem wir das Bemühen aufgeben, jung und schlank zu sein. ›Gott sei Dank!‹, rufen wir aus. ›Diese Illusion bin ich los.‹ Alles, was dem Selbst zusätzlich aufgebürdet wird, ist ebenso Last wie Quelle von Stolz.«
     

 
8
     
    Zum Leidwesen unseres Selbstwertgefühls ist die westliche Kultur dem Verzicht auf Ansprüche nicht eben förderlich, noch der Gelassenheit gegenüber dem Altern und Dickwerden oder gar der Armut und Gesichtslosigkeit. Im Gegenteil drängt sie uns zu immer neuen Aktionen und Erwerbungen, die unseren Vorfahren nie in den Sinn gekommen wären. Nach der James-Gleichung ist es der modernen Gesellschaft so gut wie unmöglich, uns bei steigenden Ansprüchen auch noch die angemessene Selbstachtung zu garantieren.
    Die Gefahren der enttäuschten Erwartung werden durch den Verfall des Jenseitsglaubens zusätzlich gesteigert. Wer daran glaubt, dass die irdische Existenz nur ein kurzes Vorspiel des ewigen Lebens ist, wird jede Anwandlung von Neid mit dem Gedanken vertreiben, dass der Erfolg der anderen vor dem Hintergrund der Ewigkeit nur ein flüchtiges Phänomen darstellt.
    Wenn aber der Jenseitsglaube als kindische und unwissenschaftliche Vernebelung interpretiert wird, führt die Einsicht, dass es nur eine einzige und erschreckend kurze Chance zur Verwirklichung aller Vorhaben und Träume gibt, dazu, dass diese Ziele mit Nachdruck verfolgt werden. Irdische Erfolge können nicht mehr als Vorgeschmack auf das gesehen werden, was
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