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Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten

Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten

Titel: Stadtgeschichten - 03 - Noch mehr Stadtgeschichten
Autoren: Armistead Maupin
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Schwelle tritt. Da ist es nur normal, wenn wir das Ereignis gebührend feiern.«
    Mrs. Madrigal warf ihm ihren »Du ungezogener Junge!« -Blick zu und ließ sich in den Lehnstuhl am Kamin sinken. Boris witterte eine neue Chance, sich malerisch in Szene zu setzen, sprang auf ihren Schoß und blinzelte träge ins Feuer. »Kann ich dich für einen Joint interessieren?« fragte die Vermieterin.
    Michael schüttelte lächelnd den Kopf. »Danke. Ich komm so schon zu spät zur Arbeit.«
    Sie lächelte ebenfalls. »Dann grüß Ned schön von mir. Dein neuer Haarschnitt sieht übrigens toll aus.«
    »Danke«, sagte Michael strahlend und wurde leicht rot.
    »Es gefällt mir, wenn man deine Ohren sieht. Du wirkst dann richtig jungenhaft. Gar nicht so, als wärst du schon jenseits der großen Schwelle.«
    Michael bedankte sich mit einer kleinen eleganten Verbeugung.
    »Los jetzt«, sagte die Vermieterin. »Laß tausend Blumen blühen.«
    Als er fort war, gestattete sie sich ein heimliches Grinsen über sein Gerede von der großen Schwelle. Mein Gott, sie war jetzt sechzig. Hieß das, daß sie schon zweimal darübergetreten war?
    Sechzig. Von nahem war die Zahl lange nicht so dräuend wie einst von fern. Eigentlich besaß sie sogar eine stimmige Rundheit, wie ein reifer Gouda oder ein behagliches Sitzkissen.
    Was für Vergleiche? Sie lachte in sich hinein. Was war aus ihr geworden? Ein alter Käse? Ein Einrichtungsgegenstand?
    Eigentlich war es ihr egal. Sie war Anna Madrigal, Frau aus freien Stücken, und auf der ganzen Welt war niemand sonst genau wie sie.
    Mit dieser beruhigenden Litanei im Hinterkopf drehte sie sich aus ihrem feinsten Sensemilla einen Joint und lehnte sich mit Boris zurück, um das Feuer zu genießen.

Michael
    Seit fast drei Jahren war Michael Tolliver nun Leiter einer Gärtnerei namens God’s Green Earth im Richmond District. Der Besitzer des Geschäfts war Michaels bester Freund Ned Lockwood, ein muskulöser Zweiundvierzigjähriger und quasi der Prototyp eines Schwulen mit Naturberuf.
    Schwule mit Naturberuf waren nach Michaels Diktion alle, die sich auf Männerart und im Freien mit schönen lebendigen Dingen beschäftigten: Gärtner, Landschaftsgärtner, Forstaufseher und manche Landschaftsarchitekten. Floristen gehörten selbstverständlich nicht dazu.
    Michael beschäftigte sich gern mit Erde. Die Früchte seiner Anstrengung hatten ästhetische, spirituelle, direkt greifbare und sogar sexuelle Qualitäten – manche Männer aus der Stadt fanden nichts erotischeres als den Anblick eines Vornamens, der mit groben Stichen auf die Vorderseite eines verwaschenen grünen Overalls gestickt war.
    Wie Michael war Ned nicht seit jeher ein Schwuler mit Naturberuf gewesen. Sein Studium an der University of California in Los Angeles hatte er in den frühen sechziger Jahren als Tankwart an einer Chevron-Tankstelle in Beverly Hills finanziert. Dann war eines Tages ein berühmter, fünfzehn Jahre älterer Filmstar zum Ölwechsel vorgefahren und hatte sich hoffnungslos in den muskulösen schlanken Jungen verknallt.
    Von da an änderte sich Neds Leben radikal. In Null Komma nichts ließ sich der Filmstar mit seinem neuentdeckten Schützling häuslich nieder. Er kam für Neds Studiengebühren auf und integrierte ihn – soweit es der Anstand und sein PR-Berater erlaubten – in sein Leben in Hollywood.
    Ned blieb sich selbst ziemlich treu. Er war mit einer sexuellen Ausstrahlung gesegnet, die schon ans Mystische grenzte, und er gewann weiterhin das Herz jedes Mannes, jeder Frau und jedes Tiers, das ihm über den Weg lief. Sie alle waren weniger von seiner Schönheit in Bann geschlagen als von seiner angeborenen, fast kindlichen Gabe, Aufmerksamkeit zu schenken. In einer Stadt, in der niemand je zuhörte, tat er genau das.
    Die Liebesaffäre dauerte fast fünf Jahre. Als sie zu Ende war, gingen die beiden Männer als Freunde auseinander. Der Filmstar half Ned sogar bei der Finanzierung seines Umzugs nach San Francisco.
    Ned Lockwood war jetzt, in mittleren Jahren, attraktiver denn je, aber er bekam eine Glatze – nein, er hatte eine Glatze. Die verbliebenen Haare hielt er immer kurz, und seinen nackten Skalp trug er genauso stolz wie die Fernfahrer in den Pornofilmen von Wakefield Poole. »Wenn ich mal anfange, mir die Haare von hinten oder von der Seite hochzuharken«, hatte er Michael einmal ernsthaft ermahnt, »dann mußt du mich wegbringen und erschießen lassen.«
    Ned und Michael waren zweimal miteinander ins Bett
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