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Stadtfeind Nr.1

Stadtfeind Nr.1

Titel: Stadtfeind Nr.1
Autoren: Jonathan Tropper
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Charme.
    Langsam rolle ich mich aus dem Bett, wobei ich mich doppelt so alt fühle, wie ich bin, streife ein T-Shirt über und schlurfe für einen Mittemachtssnack aus Zimttoast und POWERADE den Flur hinunter. Der bevorstehende Angriff meines Katers lässt sich nicht vermeiden, aber in letzter Zeit habe ich in einem entweder aus Verzweiflung oder einem Übermaß an freier Zeit entstandenen Versuch entdeckt, dass mit flüssigem Tylenol gespritzte POWERADE den Schlag wirkungsvoll abdämpft. Ich freue mich nicht auf den Morgen, aber er scheint wenigstens noch weit entfernt. Ich schalte meinen absurd großen Flachbildfernseher ein und sehe zu, wie ein mit Koffein aufgeputschter australischer Knallkopf in einen Sumpf mit zwei großen Krokodilen taucht, offenbar um zu demonstrieren, wie man so etwas richtig macht. Kurz nach drei Uhr morgens, als meine Nerven unter dem Elektrolytenschwall meines Kater-Cocktails nur so rasseln, sage ich: Scheiß auf alles!, und rufe Owen an. Ich denke, ich schulde ihm fünfzehn Prozent meiner schlaflosen Nacht.

4
    Alle Wege führen zurück nach Bush Falls.
    Ich spreche nicht metaphorisch. So ziemlich jeder Highway, der von Manhattan nach Norden abgeht, führt dorthin. Man kann den Harlem River Drive zum Cross Bronx Expressway nehmen, der dann zum New England Thruway wird, und auf dieser Straße bis nach Bush Falls hochfahren. Oder man nimmt den Henry Hudson Parkway über den Saw Mill und den Cross County bis zum Hutchinson River Parkway und fährt dann auf den Merritt Parkway, der sich in einem Serpentinenpfad durch die südliche Hälfte von Connecticut windet. Vom Merritt aus fährt man auf die 1-91, auf der man bis nach Hartford und gleich dahinter nach Falls kommt: mehr Highways, weniger Verkehr. Oder man kombiniert die beiden Routen, indem man erst den Merritt nimmt und dann beim Auto-bahnkreuz 1-287 auf den Thruway wechselt. Trotz dieses echten Wollknäuels aus Highways habe ich mich in den letzten siebzehn Jahren nicht ein einziges Mal im Stande gesehen, einen von ihnen nach Bush Falls zu nehmen.
    Am nächsten Morgen sitze ich hinter dem Lenkrad meines silbernen Mercedes, der im Leerlauf am Straßenrand steht, genau vor der Kinney-Garage, wo er im Allgemeinen parkt, gelähmt von Unschlüssigkeit, welche Route ich für die zweieinhalbstündige Fahrt nehmen soll. Es ist ein klarer Morgen, Zimmertemperatur, aber der aufmerksame Beobachter kann bereits eine sichtbare Verringerung des entblößten Fleisches bei den Frauen feststellen, die auf dem Weg zur Arbeit vorüberkommen. Der Sommer ist vorbei, und ich kann mich nicht erinnern, dass er überhaupt je da war. Wieder beginne ich zu zögern. Ich will nicht fahren. Mein Vater ist nie für mich da gewesen. Warum sollte ich jetzt für ihn da sein müssen? Erkennen wird er mich ja sowieso nicht, in seinem Koma und überhaupt.
    Aber ich weiß, dass ich fahren werde, aus demselben Grund, aus dem Brad mich jedes Jahr anruft und halbherzige Einladungen zu unterschiedlichen Feiertagsessen ausspricht. Weil man es eben tut. Wenn man einen jüngeren Bruder hat, der allein in Manhattan lebt, dann ruft man ihn zu den Feiertagen an und platzt vor gekünstelter Vertrautheit und gestelzter Bonhomie. Und wenn dein Vater an seinem Sweet Spot einen lebensbedrohlichen Schlaganfall erleidet, dann schiebst du siebzehn Jahre böses Blut beiseite und fährst hin, um da zu sein. Nicht unbedingt, um zu helfen oder sogar Unterstützung anzubieten, sondern einfach weil das der Ort ist, an den du gehörst. Bluts-verwandtschaft trennt die Menschen, wenn es sein muss, aber ihr Ruf besitzt eine urtümliche Macht, und er wird nicht ausgeschlagen werden.
    Das Motorola V.60, das an mein Armaturenbrett montiert ist, klingelt, und ich klappe es auf und aktiviere die Freisprechanlage des Wagens. »Hallo?«
    »Frauenfeind!«
    Natalie.
    »Du bist ein kleiner, jämmerlicher, selbstbesessener Schwachkopf, der nicht die geringste Ahnung hat, was es heißt, zu lieben oder geliebt zu werden. Du wirst nie begreifen, was es bedeutet, sich um einen anderen Menschen mehr zu kümmern als um sich selbst, und du wirst elend und allein sterben!«
    Ich will ihr sagen, dass ich schon jetzt elend und allein bin, aber sie hat bereits wieder aufgelegt.
    »Dir auch einen schönen Tag«, sage ich leise, sogar liebevoll, lege mit einem letzten, tiefen Seufzer die Drive-Stellung ein und biege auf die 96. Straße ein, in Richtung West Side Highway. Man kann wohl davon ausgehen, dass die eigene Welt so
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