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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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Und wenn sie sich neckten, wie jetzt, spürte man ihre Zuneigung und den gegenseitigen Respekt.
    Avery hatte sich vor allem gewünscht, ihre Mutter wäre so humorvoll und offen gewesen wie Lilah, die sich immer sichtbar wohl gefühlt hatte in der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter.
    Ihre Mutter schien beide Rollen stets abgelehnt zu haben. Obwohl sie es nie offen ausgesprochen hatte, waren ihr Frustration und Unzufriedenheit über den eigenen Platz im Leben anzumerken gewesen.
    Nein, das stimmte nicht ganz. Ihre Mutter war frustriert gewesen über die wilde und trotzige Art ihres einzigen Kindes. Sie war enttäuscht gewesen über die Neigungen und Abneigungen der Tochter und deren Lebensentscheidungen.
    Anscheinend hatte sie dem Maßstab ihrer Mutter nicht genügt.
    Lilah Stevens hingegen hatte ihr nie das Gefühl gegeben, dass sie ihr nicht genügte. Im Gegenteil, Lilah hatte sie nicht nur geschätzt, sondern ihr sogar vermittelt, etwas Besonderes zu sein.
    „Das sehe ich allerdings“, bestätigte Avery und ging auf den Scherz ein. „Es ist empörend.“
    „Sehr richtig.“ Lilah deutete ihnen mit einer Handbewegung an, in den Wohnraum zu gehen. „Matt muss auch jeden Moment hier sein. Ich muss nur noch den Kartoffelbrei schlagen und das Baguette aufwärmen, dann können wir essen.“
    „Kann ich helfen?“ fragte Avery.
    Wie erwartet, lehnte Lilah entschieden ab. Buddy und Cherry führten sie in den Wohnraum. Erschöpft ließ Avery sich auf das Polstersofa fallen. Am liebsten hätte sie den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen und eine Woche nur geschlafen.
    „Du hast dich kaum verändert“, sagte Buddy leise mit wehmütigem Unterton. „Immer noch das hübsche und lebenslustige Mädchen mit den strahlenden Augen wie an dem Tag, als du Cypress Springs verlassen hast.“
    Damals war sie so verdammt jung gewesen und lächerlich naiv. Sie hatte sich nach Größerem gesehnt als Cypress Springs, nach etwas Besserem. Sie hatte gespürt, dass außerhalb dieser Kleinstadt etwas Wichtiges auf sie wartete. Und vermutlich hatte sie es gefunden: einen Job mit Prestige, Preise für ihre Artikel, beruflichen Respekt und ein beneidenswertes Gehalt.
    Aber was zählte das jetzt noch? Sie würde mit Freuden alles anders machen, wenn sie dafür ihren Vater zurückbekäme.
    Sie sah Buddy an. „Du wärst erstaunt, wie sehr ich mich verändert habe.“ Durch ein Lächeln nahm sie ihren Worten die Schärfe. „Und was ist mit dir? Abgesehen davon, dass du noch genauso umwerfend aussiehst wie früher. Bist du immer noch der gefürchtetste und respektierteste Gesetzesmann der Gegend?“
    „Das weiß ich nicht“, erwiderte er leise. „Die Ehre gebührt wohl derzeit Matt.“
    „Der Bezirkssheriff von West Feliciana geht nächstes Jahr in den Ruhestand“, fiel Cherry ein, „und Matt will sich für den Posten bewerben.“ Ihr Stolz war unüberhörbar. „Eingeweihte behaupten, dass er die Wahl mit einem erdrutschartigen Sieg gewinnen wird.“
    Buddy nickte, sichtlich erfreut. „Mein Sohn, der Top Cop im Bezirk, stell dir das vor.“
    „Eine regelrechte Polizistendynastie“, erwiderte Avery.
    „Nicht mehr lange.“ Buddy nahm in einem Sessel Platz. „Die Pensionierung steht bevor. Wahrscheinlich hätte ich längst in den Ruhestand gehen sollen. Wenn ich einen Enkel hätte, den ich verwöhnen könnte …“
    „Dad!“ warnte Cherry, „fang nicht wieder damit an.“
    „Drei Kinder, und alles Enttäuschungen“, grummelte er. „Freunde von mir haben bereits ein halbes Dutzend Enkelchen. Das ist doch nicht richtig, oder?“ Er sah Avery an.
    Sie hob lachend die Hände „Oh nein, auf die Debatte lasse ich mich nicht ein.“
    Cherry formte mit dem Mund „danke“. Buddy schmollte, und Avery wechselte das Thema. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du irgendwann nicht mehr der Polizeichef bist. Cypress Springs ist dann nicht mehr dieselbe Stadt.“
    „Irgendwann muss jede Generation für die nächste Platz machen. So sehr ich den Gedanken auch hasse, meine Zeit ist vorbei.“
    Cherry ging mit einem verächtlichen Schnauben auf die Küche zu. „Ich hole mir ein Glas Wein. Möchtest du auch eines, Avery?“
    „Sehr gerne.“
    „Roten oder weißen?“
    „Was da ist.“ Avery atmete aus, ließ den Kopf auf die Sofalehne sinken und schloss entspannt die Augen. Bilder der Kindheit tauchten auf, wie sie mit Matt und Hunter gespielt hatte, während die Eltern im Garten grillten. Buddy und Lilah, wie sie
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