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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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sagte.“
    „Du bist nicht schuld, Avery.“
    „Nein?“ Sie merkte, wie ihr die Hände zitterten, und schob sie in die Hosentaschen. „Trotzdem frage ich mich, ob er noch leben würde, wenn ich in Cypress Springs geblieben wäre. Wenn ich wenigstens nach Moms Tod häufiger hier gewesen wäre, wäre er vielleicht nicht depressiv geworden. Wäre ich doch nur ans Telefon …“ Sie brach den Satz ab, unfähig, die Worte auszusprechen, und sah Matt in die Augen. „Es tut so weh.“
    „Quäl dich nicht mit Schuldgefühlen. Du kannst nichts ungeschehen machen.“
    „Das ist leider wahr“, bestätigte sie voller Bitterkeit. „Ich habe meinen Dad über alles geliebt, und doch bin ich seit dem College nur wenige Male nach Haus gekommen. Auch nach Moms unerwartetem Tod bin ich nicht öfter hier gewesen, obwohl es mich hätte wachrütteln müssen, dass Mom und ich nicht mehr dazu gekommen sind, unsere Probleme zu bereinigen.“
    Er antwortete nicht, und sie fuhr fort: „Damit werde ich wohl leben müssen, was?“
    „Nein“, korrigierte er, „du musst nur daraus lernen. Es kommt darauf an, was du in Zukunft tust, nicht was du getan hast.“
    Eine Gruppe Teenager rumpelte in einem Pick-up vorüber, und ihr lautes Lachen löste die Spannung des Augenblicks. Dem Pick-up folgte eine weitere Teenagergruppe in einem gelben Kabrio mit offenem Verdeck.
    Avery blickte auf ihre Uhr. Halb vier. Die High School schließt noch zur selben Zeit wie früher.
    Seltsam, wie sich manche Dinge dramatisch verändern und andere gar nicht.
    „Ich sollte wieder an die Arbeit gehen. Alles okay mit dir?“
    Sie nickte. „Danke, dass du den Babysitter gespielt hast.“
    „Gern geschehen.“ Matt ging auf sein Auto zu, blieb jedoch noch einmal stehen und sah zu ihr zurück. „Fast hätte ich es vergessen. Mom und Dad erwarten dich heute Abend zum Dinner.“
    „Heute Abend? Aber ich bin doch gerade erst angekommen.“
    „Eben drum. Mom und Dad würden auf keinen Fall zulassen, dass du den ersten Abend allein zu Haus verbringst.“
    „Aber …“
    „Du bist hier nicht mehr in der Großstadt. Hier kümmern sich die Menschen umeinander. Außerdem gehörst du zur Familie.“
    Zuhause. Familie. In diesem Moment waren das wunderschöne Worte. „Ich komme. Leben sie immer noch auf der Ranch?“ fragte sie und bezog sich mit dem Spitznamen auf das weitläufige Wohnhaus der Stevens, das im Ranchstil erbaut worden war.
    „Natürlich. Dass in Cypress Springs alles bleibt, wie es war, darauf kann man sich verlassen.“ Er ging weiter zu seinem Wagen, öffnete die Tür und sah noch einmal zu ihr hin. „Ist sechs Uhr zu früh?“
    „Nein, das passt genau.“
    „Bestens.“ Er stieg in die Limousine, ließ den Motor an und setzte zurück. Auf der Hälfte der Zufahrt hielt er an und drehte das Fenster herunter. „Hunter ist wieder da“, rief er. „Ich dachte, das würde dich interessieren.“
    Avery stand noch am selben Platz, als Matts Wagen längst verschwunden war. Hunter? dachte sie ungläubig. Matts Zwillingsbruder und der Dritte ihres Triumvirats. Er war wieder in Cypress Springs? Als sie zuletzt von ihm gehört hatte, war er Partner in einer angesehenen Anwaltskanzlei in New Orleans gewesen.
    Sie wandte sich von der Straße ab und ihrem Elternhaus zu. Irgendetwas war geschehen in jenem Sommer, als sie fünfzehn gewesen war und Matt und Hunter sechzehn. Zwischen den Brüdern hatte es ein Zerwürfnis gegeben. Danach war Hunter zunehmend unnahbar und heftig geworden. Er und Matt hatten oft gestritten, sogar handgreiflich. Das Haus der Familie Stevens, immer ein Hort der Wärme, des Lachens und der Liebe, wurde zum Kampfgebiet, als übertrüge sich die Feindseligkeit der Brüder auch auf alle anderen familiären Beziehungen.
    Zunächst hatte sie angenommen, mit der Zeit würde alles wieder gut werden. Doch das war ein Trugschluss gewesen. Hunter ging aufs College und kehrte nicht zurück – nicht mal in den Ferien.
    Seltsam, dass er nun wieder hier war, genau wie sie. Ein eigenartiger Zufall. Vielleicht würde sie heute Abend erfahren, was ihn hergeführt hatte.

2. KAPITEL
    Punkt sechs fuhr Avery am Haus der Stevens vor. Buddy Stevens saß Zigarre rauchend auf der vorderen Veranda. Als er sie erblickte, erhob er sich schwerfällig. „Da ist ja mein Mädchen!“ rief er. „Gesund und munter heimgekehrt.“
    Sie eilte ihm auf dem Gartenweg entgegen und wurde mit einer Umarmung empfangen. Dieser Bär von einem Mann mit seiner breiten Brust
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