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Stadt des Schweigens

Stadt des Schweigens

Titel: Stadt des Schweigens
Autoren: Margret Krätzig Erica Spindler
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Durch ihre Recherchen wusste sie, wie grausam Tod durch Verbrennen war.
    Matt führte sie zur Seitentür, öffnete sie, und sie traten ein. Zwei Dinge sprangen Avery geradezu an: der intensive Geruch und eine zwanghafte Vorstellung von den letzten Minuten ihres Vaters. Sie stellte sich seine Schreie vor, als die Flammen ihn einschlossen und seine Haut zu verbrennen begann. Avery schlug eine Hand vor den Mund, den Blick auf den großen verkohlten Fleck am Betonboden gerichtet – die Stelle, an der ihr Vater bei lebendigem Leib verbrannt war.
    Ein so ausgeführter Selbstmord war kein bloßer Akt der Verzweiflung, sondern des Selbsthasses.
    Sie begann zu zittern. Ihr wurde schwindelig, und die Beine drohten ihr den Dienst zu versagen. Rasch wandte sie sich ab und lief hinaus zu den Azaleenbüschen mit ihren aufplatzenden Knospen. Vornübergebeugt kämpfte sie gegen die Übelkeit an, um nicht zusammenzubrechen.
    Matt kam zu ihr und legte ihr eine Hand auf den Rücken.
    Avery fragte gequält: „Wie konnte er so etwas tun, Matt?“ Sie warf ihm über die Schulter einen Blick zu, die Augen voller Tränen. „Schlimm genug, dass er sich das Leben genommen hat, aber auf diese Weise? Die Schmerzen müssen doch unerträglich gewesen sein.“
    „Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, erwiderte er sanft. „Ich habe keine Erklärung dafür. Aber ich wünschte, ich hätte eine.“
    Sie straffte sich und flüchtete sich in Zorn und Verleugnung. „Mein Vater liebte das Leben. Er schätzte es hoch. Er war Arzt, um Himmels willen! Er hat sich ganz dem Bewahren von Leben gewidmet.“
    Da Matt schwieg, fügte sie heftig hinzu: „Er war stolz auf sich und auf das, was er tat. Stolz auf seinen Lebensweg. Aber der Mann, der das da getan hat, hasste sich. Das war nicht mein Dad.“ Sie wiederholte es mit verzweifeltem und klagendem Unterton. „Das war nicht mein Dad, Matt!“
    „Avery, du warst nicht …“ Er brach ab und wandte unbehaglich den Blick ab.
    „Was, Matt? Was war ich nicht?“
    „Nicht viel hier gewesen.“ Er las die Wirkung seiner Worte in ihrem Mienenspiel ab, nahm ihre Hände und hielt sie fest. „Dein Dad war schon eine Weile nicht mehr er selbst. Er hatte sich von allen zurückgezogen und blieb tagelang im Haus. Wenn er herauskam, sprach er kein Wort. Er ging auf die andere Straßenseite, um Gesprächen auszuweichen.“
    Wie ist es möglich, dass ich davon nichts gewusst habe? „Wann?“ fragte sie bedrückt. „Wann fing das an?“
    „Ich glaube, etwa um die Zeit, als er seine Praxis aufgab.“
    Kurz nach Mutters Tod.
    „Warum hat mich niemand informiert? Warum …“ Sie verstummte und presste die bebenden Lippen fest zusammen.
    Matt drückte ihr die Hände. „Die Veränderung geschah nicht über Nacht. Zunächst wirkte er nur abwesend. Oder als brauche er Zeit zum Trauern, allein, nur für sich selbst. Erst in letzter Zeit begannen die Leute zu reden.“
    Avery schaute zu dem überwucherten Garten ihres Vaters. Kein Wunder, dachte sie.
    „Es tut mir Leid, Avery. Uns allen tut es sehr Leid.“
    Sie wandte sich von ihrem alten Freund ab und kämpfte mit den Tränen.
    Doch sie verlor den Kampf.
    „Oh mein Gott, Avery.“ Matt nahm sie in die Arme und zog sie an sich. Verzweifelt schmiegte sie sich an, legte das Gesicht an seine Schulter und weinte hemmungslos.
    Er hielt sie ein wenig linkisch und steif, tätschelte ihr die Schulter und raunte Tröstliches, was sie durch ihr hemmungsloses Schluchzen nicht verstand.
    Allmählich ließ die Tränenflut nach und versiegte schließlich ganz. Verlegen löste sich Avery von ihm. „Entschuldige. Ich … ich dachte, ich könnte damit umgehen.“
    „Sei nachsichtig mit dir. Ehrlich gesagt, wenn du damit umgehen könntest, würde ich mir Sorgen um dich machen.“
    Schon wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie hielt eine Hand vor die Nase. „Ich brauche ein Taschentuch. Entschuldige mich.“
    Avery ging zu ihrem Auto und merkte, dass Matt ihr folgte. Nach kurzem Suchen fand sie in der Tasche ein zerknülltes Kleenex, putzte sich die Nase, wischte die Augen trocken und wandte sich wieder Matt zu. „Ich weiß nicht, wie mir entgehen konnte, dass es so schlecht um Dad stand. Bin ich ein solcher Egomane?“
    „Keiner von uns wusste, wie es um ihn stand“, tröstete er sie leise, „und wir haben ihn jeden Tag gesehen.“
    „Aber ich bin seine Tochter. Ich hätte es erkennen müssen – an seiner Stimme, an dem, was er sagte oder auch nicht
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