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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas
Autoren: Paul Auster
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Karte an der Wand und das Sonnenlicht, das durch das Fenster fiel und so sehr dem Sonnenlicht ähnelte, das ihn jetzt umgab. Er ging. Er überquerte die Straße und setzte seinen Weg nach Osten fort. In der Madison Avenue bog er nach rechts ab und ging einen Häuserblock weit nach Süden, dann wandte er sich nach links und erkannte, wo er war. »Ich scheine angekommen zu sein«, sagte er zu sich selbst. Er stand vor dem Gebäude. Plötzlich schien nichts mehr von Bedeutung zu sein. Er fühlte sich bemerkenswert ruhig, so als wäre mit ihm schon alles geschehen. Als er die Tür öffnete, durch die er den Hausflur betrat, gab er sich einen letzten Rat.
    »Wenn dies alles wirklich geschieht«, sagte er, »muß ich die Augen offen halten.«

    Eine Frau öffnete die Wohnungstür. Aus irgendeinem Grunde hatte Quinn das nicht erwartet, und es brachte ihn aus der Fassung. Schon ging alles zu schnell. Bevor er noch Gelegenheit hatte, die Gegenwart der Frau in sich aufzunehmen, sie für sich selbst zu beschreiben und seine Eindrücke zu ordnen, sprach sie auch schon zu ihm und zwang ihn zu antworten. Daher hatte er schon in diesen ersten Augenblicken an Boden verloren und begann hinter sich selbst zurückzubleiben. Später, als er Zeit hatte, über diese Ereignisse nachzudenken, gelang es ihm, die Begegnung mit der Frau zusammenzustückeln. Aber das war das Werk der Erinnerung, und erinnerte Dinge, das wußte er, neigen dazu, die Dinge zu entstellen, an die man sich erinnert. Daher konnte er in bezug auf keines von ihnen sicher sein.
    Die Frau war dreißig, vielleicht fünfunddreißig, bestenfalls mittelgroß; Hüften eine Spur zu breit, oder sinnlich, je nachdem, wie man es sehen will; dunkles Haar, dunkle Augen, und ein Blick in diesen Augen, der zugleich zurückhaltend und auf eine unbestimmte Weise verführerisch war. Sie trug ein schwarzes Kleid, und ihre Lippen waren sehr rot geschminkt.
    »Mr. Auster?« Der Versuch eines Lächelns und eine fragende Neigung des Kopfes.
    »Richtig«, sagte Quinn. »Paul Auster.«
    »Ich bin Virginia Stillman«, sagte sie. »Peters Frau. Er wartet seit acht Uhr auf Sie.«
    »Wir sind für zehn verabredet«, sagte Quinn und sah auf seine Uhr. Es war Punkt zehn.
    »Er ist außer sich vor Aufregung«, erklärte die Frau. »Ich habe ihn noch nie so gesehen. Er konnte es einfach nicht erwarten.«
    Sie öffnete Quinn die Tür. Als er über die Schwelle in die Wohnung trat, fühlte er eine Leere in sich, als hätte sich sein Gehirn plötzlich abgeschaltet. Er hatte alle Einzelheiten, die er sah, in sich aufnehmen wollen, aber diese Aufgabe überstieg im Augenblick seine Kräfte. Die Wohnung umgab ihn wie etwas Verschwommenes. Er erkannte, daß sie groß war, vielleicht fünf oder sechs Zimmer hatte, reich möbliert und mit zahlreichen Kunstgegenständen, silbernen Aschenbechern und kostbar gerahmten Gemälden an den Wänden geschmückt war. Aber das war alles. Nicht mehr als ein allgemeiner Eindruck - obwohl er da war und diese Dinge mit eigenen Augen betrachtete.
    Plötzlich saß er auf einem Sofa, allein im Wohnzimmer. Er erinnerte sich, daß Mrs. Stillman gesagt hatte, er solle dort warten, während sie ihren Mann holte. Er konnte nicht sagen, wie lange das her war. Sicherlich nicht mehr als eine Minute oder zwei. Aber so wie das Licht durch die Fenster hereinkam, schien es beinahe Mittag zu sein. Es fiel ihm jedoch nicht ein, auf die Uhr zu sehen. Der Geruch von Virginia Stillmans Parfüm schwebte in der Luft, und er begann sich vorzustellen, wie sie ohne Kleider aussehen mochte. Dann überlegte er, was Max Work denken würde, wenn er da wäre. Er beschloß, sich eine Zigarette anzuzünden. Er blies den Rauch ins Zimmer, und es machte ihm Spaß zuzusehen, wie er seinen Mund in Stößen verließ, sich auflöste und neue Gestalt annahm, wenn ihn das Licht traf. Er hörte, wie hinter ihm jemand das Zimmer betrat. Quinn erhob sich von seinem Sofa und drehte sich um in der Erwartung, Mrs. Stillman zu sehen. Statt dessen hatte er einen jungen Mann vor sich, ganz in Weiß gekleidet, mit dem weißblonden Haar eines Kindes. Unheimlicherweise dachte Quinn in diesem ersten Augenblick an seinen eigenen toten Sohn. Dann verschwand der Gedanke so schnell, wie er gekommen war.
    Peter Stillman trat ins Zimmer und setzte sich Quinn gegenüber in einen roten Samtfauteuil. Er sagte kein Wort, während er zu seinem Platz ging, und nahm auch Quinns Anwesenheit nicht zur Kenntnis. Sich von einer Stelle an eine
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