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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas
Autoren: Paul Auster
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seinen Geburtstag an diesem Tag gefeiert. Diesmal war es etwas früher als an den beiden anderen Abenden - noch nicht einmal elf Uhr -, und als er nach dem Hörer griff, nahm er an, es müsse jemand anders sein.
    »Hallo?« sagte er.
    Wieder ein Schweigen am anderen Ende. Quinn wußte sofort, daß es der Fremde war.
    »Hallo?« sagte er noch einmal. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ja«, sagte die Stimme endlich. Dasselbe mechanische Flüstern, derselbe verzweifelte Tonfall. »Ja, es ist jetzt nötig, ohne Aufschub.«
    »Was ist nötig?«
    »Zu sprechen. Jetzt gleich. Jetzt gleich zu sprechen. Ja.«
    »Und mit wem möchten Sie sprechen?«
    »Immer noch mit demselben. Auster. Mit dem, der Paul Auster heißt.«
    Diesmal zögerte Quinn nicht. Er wußte, was er tun wollte, und nun, da die Zeit gekommen war, tat er es auch.
    »Am Apparat«, sagte er. »Hier spricht Paul Auster.«
    »Endlich. Endlich habe ich Sie gefunden.« Er konnte die Erleichterung in der Stimme hören, die fühlbare Ruhe, die plötzlich von ihr Besitz zu ergreifen schien.
    »Das ist richtig«, sagte Quinn. »Endlich.« Er schwieg einen Augenblick, um die Worte wirken zu lassen, auf sich selbst ebensosehr wie auf den anderen. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Ich brauche Hilfe«, sagte die Stimme. »Ich bin in großer Gefahr. Man sagt, Sie seien der beste für solche Dinge.«
    »Kommt darauf an, was für Dinge Sie meinen.«
    »Ich meine Tod. Ich meine Tod und Mord.«
    »Das ist nicht ganz mein Fach«, sagte Quinn. »Ich gehe nicht herum und bringe Leute um.«
    »Nein«, sagte die Stimme ungeduldig. »Ich meine es umgekehrt.«
    »Jemand will Sie töten?«
    »Ja, mich töten. Das ist richtig. Ich soll ermordet werden.«
    »Und Sie wollen, daß ich Sie beschütze?«
    »Mich beschützen, ja. Und den Mann finden, der es tun will.«
    »Sie wissen nicht, wer es ist?«
    »Doch, ich weiß es. Natürlich weiß ich es. Aber ich weiß nicht, wo er ist.«
    »Können Sie mir mehr darüber sagen?«
    »Nicht jetzt. Nicht am Telefon. Ich bin in großer Gefahr. Sie müssen hierher kommen.«
    »Wie wäre es morgen?«
    »Gut. Morgen. Schon früh. Am Vormittag.«
    »Um zehn?«
    »Gut, um zehn.« Die Stimme gab eine Adresse in der East 69th Street an. »Vergessen Sie es nicht, Mr. Auster. Sie müssen kommen.«
    »Keine Sorge«, sagte Quinn. »Ich werde dort sein.«

2

    Am nächsten Morgen wachte Quinn früher auf als in den vergangenen Wochen. Während er seinen Kaffee trank, Butter auf den Toast strich und die Baseballergebnisse in der Zeitung studierte (die Mets hatten wieder verloren, zwei zu eins, durch einen Fehler beim neunten Schlag), kam ihm gar nicht der Gedanke, seine Verabredung einhalten zu wollen. Schon dieser Ausdruck, seine Verabredung, kam ihm komisch vor. Es war nicht seine, es war Paul Austers Verabredung. Und er hatte keine Ahnung, wer diese Person war.
    Dennoch, als die Zeit verging, stellte er fest, daß er sehr gut einen Mann imitierte, der sich darauf vorbereitet auszugehen. Er räumte das Frühstücksgeschirr ab, warf die Zeitung auf die Couch, ging ins Badezimmer, duschte, rasierte sich, ging, in zwei Handtücher gewickelt, weiter ins Schlafzimmer, öffnete den Schrank und wählte seine Kleidung für den Tag aus. Er ertappte sich dabei, daß er an Sakko und Schlips dachte. Quinn hatte seit dem Begräbnis seiner Frau und seines Sohnes keinen Schlips mehr getragen und konnte sich nicht einmal mehr erinnern, ob er noch einen besaß. Aber da hing er unter den Überresten seiner Garderobe. Ein weißes Hemd lehnte er als zu förmlich ab und entschied sich statt dessen für ein grau-rot kariertes, das zum grauen Schlips paßte. Er zog sich an wie in Trance.
    Erst als er die Hand schon auf die Türklinke gelegt hatte, begann er zu ahnen, was er tat. »Mir scheint, ich gehe fort«, sagte er sich. »Aber wenn ich fortgehe, wohin gehe ich dann eigentlich?«
    Eine Stunde später, als er an der Ecke 70th Street und Fifth Avenue aus dem Vierer-Bus stieg, hatte er diese Frage noch immer nicht beantwortet. Auf der einen Seite lag der Park, grün in der Morgensonne, mit harten, wandernden Schatten; auf der anderen stand das Frick, weiß und nüchtern, als wäre es den Toten überlassen. Er dachte einen Augenblick an Vermeers Soldat und lachendes Mädchen und versuchte, sich an den Gesichtsausdruck des Mädchens, die genaue Haltung ihrer Hände um den Becher, den roten Rücken des gesichtslosen Mannes zu erinnern. Im Geiste erhaschte er einen Blick auf die blaue
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