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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas
Autoren: Paul Auster
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habe aufgelegt. Dann kam wie aus großer Entfernung der Klang einer Stimme, wie er dergleichen noch keine gehört hatte. Sie war zugleich mechanisch und voll Gefühl, kaum mehr als ein Flüstern und dennoch vollkommen vernehmbar und so gleichmäßig im Tonfall, daß er nicht sagen konnte, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte.
    »Hallo?« sagte die Stimme.
    »Wer spricht dort?« fragte Quinn.
    »Hallo?« sagte die Stimme wieder.
    »Ich höre«, sagte Quinn. »Wer spricht dort?«
    »Ist das Paul Auster?« fragte die Stimme. »Ich möchte Mr. Paul Auster sprechen.«
    »Hier gibt es niemanden, der so heißt.«
    »Paul Auster. Vom Detektivbüro Auster.«
    »Tut mir leid«, sagte Quinn. »Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.«
    »Die Angelegenheit ist äußerst dringend«, sagte die Stimme.
    »Ich kann nichts für Sie tun«, sagte Quinn. »Hier gibt es keinen Paul Auster.«
    »Sie verstehen nicht«, sagte die Stimme. »Die Zeit wird knapp.«
    »Dann schlage ich vor, Sie wählen noch einmal. Dies ist kein Detektivbüro.«
    Quinn legte den Hörer auf. Er stand auf dem kalten Boden und blickte auf seine Füße, seine Knie, seinen schlaffen Penis hinunter. Einen kurzen Augenblick bedauerte er, daß er dem Anrufer gegenüber so kurz angebunden gewesen war. Es hätte, dachte er, interessant sein können, ein wenig auf ihn einzugehen. Vielleicht hätte er etwas über den Fall herausbekommen - vielleicht sogar irgendwie helfen können. »Ich muß lernen, rascher zu denken auf meinen Beinen«, sagte er sich.
    Wie die meisten Menschen wußte Quinn beinahe nichts über Verbrechen. Er hatte nie jemanden ermordet, nie etwas gestohlen, und er kannte auch niemanden, der so etwas getan hatte. Er war nie in einem Polizeirevier gewesen, hatte nie einen Privatdetektiv kennengelernt, hatte nie mit einem Verbrecher gesprochen. Was er über diese Dinge wußte, hatte er aus Büchern, Filmen und Zeitungen erfahren. Er betrachtete das jedoch nicht als Handicap. Was ihn an den Geschichten, die er schrieb, interessierte, war nicht ihre Beziehung zur Welt, sondern zu anderen Geschichten. Schon bevor er William Wilson wurde, war Quinn ein eifriger Leser von Detektivromanen gewesen. Er wußte, daß die meisten schlecht geschrieben waren, daß die meisten keiner noch so oberflächlichen Prüfung standhalten konnten, aber die Form sprach ihn an, und nur einen ganz unbeschreiblich schlechten Detektivroman würde er sich zu lesen geweigert haben. Während sein Geschmack bei anderen Büchern streng, anspruchsvoll bis zur Engstirnigkeit war, kannte er bei diesen beinahe überhaupt kein Urteilsvermögen. Wenn er in der richtigen Stimmung war, konnte er ohne große Mühe zehn oder zwölf davon hintereinander lesen. Eine Art Hunger überkam ihn dann, ein heftiges Verlangen nach einer besonderen Speise, und er hörte nicht auf, bis er sich satt gegessen hatte.
    Was ihm an diesen Büchern gefiel, war ihr Sinn für Fülle und Sparsamkeit. Im guten Detektivroman wird nichts verschwendet, kein Satz, kein Wort ist ohne Bedeutung. Und selbst wenn es keine hat, könnte es doch bedeutsam sein - was auf dasselbe hinausläuft. Die Welt des Buches wird lebendig, brodelt vor Möglichkeiten, Geheimnissen und Widersprüchen. Da alles, was gesehen und gesagt wird, selbst das Geringfügigste, Trivialste, etwas mit dem Ausgang der Geschichte zu tun haben kann, darf nichts übersehen werden. Alles wird wesentlich, der Mittelpunkt des Buches verlagert sich mit jedem Ereignis, das die Handlung vorwärtstreibt. Daher ist der Mittelpunkt überall, und kein Kreis kann gezogen werden, bevor das Buch endet.
    Der Detektiv ist einer, der beobachtet, der horcht, der sich durch diesen Morast von Dingen und Ereignissen bewegt auf der Suche nach dem Gedanken, der Idee, die alle diese Dinge zusammenfaßt und ihnen einen Sinn gibt. Tatsächlich sind der Schriftsteller und der Detektiv austauschbar. Der Leser sieht die Welt mit dem Auge des Detektivs und erlebt das Wuchern ihrer Einzelheiten wie zum erstenmal. Er ist für die Dinge um ihn her wach geworden, so als könnten sie zu ihm sprechen, als könnten sie, wegen der Aufmerksamkeit, die er ihnen nun widmet, beginnen, eine andere Bedeutung zu haben als die bloße Tatsache ihrer Existenz. Der Privatdetektiv, das »private Auge«. Der Ausdruck hatte für Quinn eine dreifache Bedeutung. Da war nicht nur ein »i« wie in »ermitteln«, da war das »I« als Großbuchstabe, der winzige Lebenskeim, im Leib des atmenden Ichs
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