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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas
Autoren: Paul Auster
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verborgen. Zugleich war es auch das physische Auge des Schriftstellers, das Auge des Mannes, der aus sich selbst hinaussieht in die Welt und fordert, daß sich ihm die Welt enthüllt. Seit fünf Jahren lebte Quinn nun im Banne dieses Wortspiels.
    Er hatte natürlich schon vor langer Zeit aufgehört, sich selbst für wirklich zu halten. Wenn er nun überhaupt auf der Welt lebte, so nur mit einigem Abstand, durch die imaginäre Person Max Works. Sein Detektiv mußte notwendigerweise wirklich sein. Die Natur des Buches erforderte es. Wenn Quinn es sich gestattet hatte, sich in die Grenzen eines sonderbaren und hermetischen Lebens zurückzuziehen, so lebte Work weiter in der Welt der anderen, und je mehr Quinn zu verschwinden schien, desto beharrlicher wurde Works Anwesenheit auf dieser Welt. Während Quinn dazu neigte, sich in seiner eigenen Haut fehl am Platze zu fühlen, war Work aggressiv, schlagfertig, an jedem Ort zu Hause, an dem er sich gerade befand. Dieselben Dinge, die für Quinn Probleme darstellten, nahm Work als selbstverständlich hin, und er ging durch die Selbstverstümmelung seiner Abenteuer mit einer Leichtigkeit und Gelassenheit, die ihren Eindruck auf seinen Schöpfer nie verfehlten. Es war nicht unbedingt so, daß Quinn Work sein oder ihm auch nur ähneln wollte, aber es beruhigte ihn vorzugeben, Work zu sein, während er seine Bücher schrieb, zu wissen, daß er es in sich hatte, Work zu sein, wenn er es jemals wollte, und sei es nur im Geiste.
    In dieser Nacht, während er endlich in den Schlaf hinüberglitt, versuchte Quinn sich vorzustellen, was Work zu dem Fremden am Telefon gesagt hätte. In einem Traum, den er später vergaß, stand er allein in einem Zimmer und feuerte mit einer Pistole auf eine kahle weiße Wand. In der folgenden Nacht wurde Quinn überrumpelt. Er hatte gedacht, der Zwischenfall sei erledigt, und erwartete nicht, daß der Fremde noch einmal anrief. Er saß zufällig gerade auf der Toilette und entleerte seinen Darm, als das Telefon läutete. Es war etwas später als in der vorausgegangenen Nacht, vielleicht zehn oder zwölf Minuten vor eins. Quinn war eben bei dem Kapitel angekommen, das Marco Polos Reise von Peking nach Amoy schildert, und das Buch lag aufgeschlagen auf seinen Knien, während er in dem kleinen Badezimmer sein Geschäft verrichtete. Das Läuten des Telefons war entschieden ein Ärgernis. Wollte er sofort den Hörer abheben, so würde das bedeutet haben, daß er aufstehen mußte, ohne sich abzuwischen, und es war ihm zuwider, in diesem Zustand durch die Wohnung zu gehen. Wenn er andererseits in seinem normalen Tempo beendete, was er tat, kam er nicht mehr rechtzeitig an den Apparat. Trotzdem zögerte Quinn, sich zu bewegen. Das Telefon war nicht sein Lieblingsgegenstand, und schon mehr als einmal hatte er daran gedacht, sich von ihm zu befreien. Was ihm am meisten mißfiel, war seine Tyrannei.
    Es hatte nicht nur die Macht, ihn gegen seinen Willen zu unterbrechen, sondern er gab seinem Befehl auch immer unweigerlich nach. Dieses Mal beschloß er, Widerstand zu leisten. Beim dritten Läuten waren seine Eingeweide leer. Beim vierten Läuten war es ihm gelungen, sich abzuputzen. Beim fünften Läuten hatte er seine Hose hinaufgezogen und das Badezimmer verlassen und ging ruhig durch die Wohnung. Er hob den Hörer nach dem sechsten Läuten ab, aber am anderen Ende war niemand mehr. Der Anrufer hatte aufgelegt. In der nächsten Nacht hielt er sich bereit. Er lag auf dem Bett ausgestreckt, blätterte die Seiten der Sporting News durch und wartete auf den dritten Anruf. Ab und zu, wenn ihn die Nerven im Stich ließen, stand er auf und ging in der Wohnung auf und ab. Er legte eine Platte auf. Haydns Oper Il Mondo della Luna, und hörte sie von Anfang bis zu Ende. Er wartete und wartete. Um halb drei gab er endlich auf und ging schlafen. Er wartete in der nächsten Nacht und ebenso in der darauffolgenden. Als er gerade seinen Plan aufgeben wollte, weil er erkannt hatte, daß alle seine Annahmen falsch gewesen waren, läutete das Telefon wieder. Es war der neunzehnte Mai. Er erinnerte sich später an das Datum, weil es der Hochzeitstag seiner Eltern war - oder gewesen wäre, wenn seine Eltern noch gelebt hätten -, und seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, daß sie ihn in der Hochzeitsnacht empfangen hatte. Das hatte ihm immer gefallen: daß er imstande war, den ersten Augenblick seiner Existenz genau zu bestimmen, und im Laufe der Jahre hatte er für sich selbst
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