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Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition)
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
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zerstückelt, die Leber an mehreren Stellen eingerissen. Vom Hirnschädel hatten sie nur Fragmente gefunden, vom Gesichtsschädel und vom Hirn gar nichts.
    Ich bewältigte auch noch die dritte Obduktion. Und am nächsten Morgen kreuzte ich pünktlich in der Mortuary in Fulham auf, wie es seit einem Monat in meinem Terminkalender stand. Warum ich nicht auf den Gedanken kam, mir eine Pause zu gönnen – schwer zu sagen. Hyperaktivität gilt auch als ein Symptom für eine akute Belastungsreaktion. Vielleicht war das die Erklärung.
    Ich fuhr hinterher sogar noch nach Uxbridge, weil ich dachte, es sei so abgesprochen gewesen. Dabei hatten sie dort jemand anderen engagiert, weil nach dem Vorfall niemand mit mir rechnete.
    Später meldete sich Her Majesty’s Coroner persönlich bei mir. Eine bemerkenswerte Frau, die ihren Job mit großer Hingabe erledigte. Wir kannten uns, aber dass sie selbst anrief, war bisher nicht allzu häufig vorgekommen. Sie hatte gehört, was mir widerfahren war, und riet mir, eine Auszeit zu nehmen, das würde helfen. Sie fänden schon jemanden, der meine Arbeit übernehmen könne. Sie meinte es gut, fürsorglich, aber das begriff ich in dem Moment nicht. Ich dachte, ich würde meinen Job los.
    »Mit mir ist alles in Ordnung«, entgegnete ich schnell, obwohl ich wusste, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Dass ich selbständig war und das Geld brauchte, war die eine Sache. Darüber musste ich nicht lange nachdenken. Schwieriger war, mir selbst einzugestehen, dass ich nicht mehr konnte.
    Schließlich folgte ich ihrem Ratschlag und legte ein paar freie Tage ein. Ich hätte abschalten, mich irgendwie ablenken sollen, stattdessen machte ich mich total verrückt, weil ich dachte: Das war es mit meinem Arbeitsplatz. Jetzt holen sie einen anderen. Ich steigerte mich in eine Angst hinein, die meinen Zustand nicht gerade verbesserte. Dazu tauchten immer wieder die Bilder mit dem Kopf von Chris auf. Die ganze Situation, wie ich im Empfangsbereich gestanden und seine Leiche begutachtet hatte, lief wie ein Film vor mir ab, in Endlosschleife. Ich machte mir Vorwürfe. Warum hatte ich ihn nicht erkannt? Ständig spielte ich in Gedanken durch, wie es hätte anders laufen können. Das nahm fast schon zwanghafte Züge an. Dabei versuchte ich mir auch vorzustellen, was gewesen wäre, wenn ich Chris erkannt hätte, ob mich das nicht viel mehr mitgenommen hätte. Gut, dann wären mir die Fotos vom Unfallort erspart geblieben, aber hätte es das besser gemacht?
    Und überhaupt, wie groß war die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass mir so etwas widerfahren würde, dass ich ausgerechnet an dem Tag in Uxbridge arbeitete, wo ich davor nur ein einziges Mal war? Warum hatte ich den Coroner’s Officers Report nicht vorher in die Hand gedrückt bekommen, oder wenigstens ein Blatt mit dem Namen des Toten, wie es üblich war? Und wieso hatten sie Chris eigentlich nach Uxbridge gebracht? Für den Bereich, wo der Unfall passiert war, wäre normalerweise Fulham zuständig gewesen. Dort hätte ich in der Zeit keinen Dienst gehabt.
    Eine Woche später fing ich wieder an zu arbeiten. Zwei Wochen später fand Chris’ Beerdigung statt. Mehr als vierhundert Trauergäste gaben ihm das letzte Geleit.
    Das
Ronnie Scott’s
mied ich die nächsten Monate. Erst in der Vorweihnachtszeit ging ich mit Dave wieder hin. Aber das war keine gute Entscheidung. Wir setzten uns oben in die Bar. Ein Weilchen hielt ich es aus. Plötzlich packte mich eine Panikattacke. Wo ich auch hinschaute, in jeder Ecke sah ich Chris’ abgetrennten Kopf. Wie ein Horrortrip. Ein Flashback jagte den anderen. Es wurde erst besser, als ich wieder draußen war und frische Luft schnappte.
    Die akute Belastungsreaktion hatte ich längst hinter mir. Das bedeutete aber nicht, dass ich wieder funktionierte, als wäre nichts geschehen. Ich konnte meine Arbeit machen, das schon, aber mit Einschränkungen. Einmal kam ich zum Dienst nach Fulham und wurde von zwei Polizisten empfangen. Sie waren gewissermaßen das Begleitkommando für zwei Motorradfahrer, die bei Unfällen tödlich verunglückt waren. Ich warf einen Blick auf die Coroner’s Officers Reports. Als ich las, worum es ging, stieg in mir wieder Panik auf. Ich verlor die Fassung und brach in Tränen aus. Die beiden Unfallopfer musste jemand anderes obduzieren. Obwohl keiner von ihnen eine Dekapitation erlitten hatte, wäre ich nicht dazu in der Lage gewesen. Es genügte allein die Tatsache, dass es sich um Motorradfahrer
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