Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition)
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
Vom Netzwerk:
Hause und wunderte sich, dass ich um diese Zeit anrief. Ohne etwas zu erklären, fing ich an: »Dave, ich habe dir doch von dem Motorradunfall erzählt …«
    Dann machte ich eine kurze Pause, mehr für mich, um mir irgendwoher Kraft zu holen, damit ich den Rest auch noch über die Lippen bekam: »… der Fahrer, das war Chris.«
    Einen Moment war Stille in der Leitung, dann hörte ich Daves Stimme, die ich kaum wiedererkannte.
    »Du meinst, Chris Dagley …?«
    »Ja.«
    Dave weinte und fluchte, und beides vermischte sich mit Fassungslosigkeit, wie ich das bei ihm noch nie erlebt hatte.
    Nach dem Gespräch mit Dave, das man eigentlich gar nicht so nennen konnte, meinte ich zu Shirley, dass ich jetzt wieder an die Arbeit ginge. Deswegen sei ich schließlich hergekommen. Nicht dass ich in dem Moment überzeugt gewesen wäre, damit etwas Sinnvolles von mir gegeben zu haben. Die Worte waren einfach so rausgerutscht bei dem Versuch, einen klaren Kopf zu bekommen. Ich brauchte etwas, woran ich mich orientieren konnte. Etwas, das mich in die Normalität zurückbrachte.
    Die gute Shirley schüttelte den Kopf, schob mich in ihr Büro und brühte mir einen Tee auf. Und während sie die Tasse vor mich auf den Schreibtisch stellte, sagte sie mit Mitleid und gleichzeitig Nachdruck in der Stimme: »Du machst hier heute gar nichts mehr! … Sollen wir dich nach Hause bringen?«
     
    Die nächsten Tage verbrachte ich wie unter einer Glasglocke. Alles drang nur gedämpft zu mir. Ich fühlte mich wie betäubt – wach, aber betäubt. Und manchmal dachte ich, jetzt werde ich verrückt. Typische Anzeichen einer akuten Belastungsreaktion. Das war nicht mein Fachgebiet, aber ich erinnerte mich an eine Psychologin, mit der wir in Hamburg in der Gewaltopfer-Ambulanz zusammengearbeitet hatten. Sie hatte mit uns Schulungen durchgeführt, in denen sie auch erzählte, wie Menschen reagieren, die unter einer akuten Belastungsreaktion leiden. Dass es zum Beispiel sein kann, dass sie Dinge erzählen, die keinen Sinn ergeben, die sie zu diesem Zeitpunkt aber genauso wahrnehmen. Oder dass sich bei ihnen Erinnerungslücken auftun und sie die zeitliche Abfolge bestimmter Ereignisse durcheinanderbringen. Das Gehirn funktioniere dann nicht wie bei einer normal denkenden Person. Sie sagte aber auch, dass das nur eine Phase sei, die der Betroffene durchmache, die nach kurzer Zeit aber vorbeiginge. Bei manchen bereits nach wenigen Stunden, bei anderen erst nach Tagen. Das war meine Hoffnung. Daran klammerte ich mich fest, auch wenn ich ein Kandidat für die längere Variante zu sein schien.
    Was mich dazu trieb, an dem Montag, der darauffolgte, erneut nach Uxbridge zu fahren – ich denke, es war eine Mischung aus Pflichtbewusstsein, der Termin war schon vorher vereinbart worden, und Nichtwahrhabenwollen. Nichtwahrhabenwollen, dass ich in meinem Beruf an eine Grenze gestoßen war, dass mich etwas aus der Bahn geworfen hatte, dass ich gerade nicht mehr die toughe Rechtsmedizinerin war, die bisher nichts hatte erschüttern können.
    Ausgemacht war, dass ich drei Leichen obduziere. Das tat ich auch. Nach der ersten – eine siebenundachtzigjährige Frau, die ein rupturiertes Aortenaneurysma hatte und innerlich verblutet war – musste ich meine Arbeit unterbrechen. Das Coroner’s Office hatte einen anderen Rechtsmediziner bestellt, der die Leiche von Chris untersuchen sollte. Bei einem anderen Fall hätten wir parallel gearbeitet, Platz wäre genug gewesen, doch jetzt verließ ich den Sektionssaal besser und wartete draußen.
    Ich muss an diesem Tag funktioniert haben wie ein Roboter. Erst raus aus dem Sektionssaal, nach einer guten Stunde wieder zurück und weitergearbeitet. Wenn ich heute daran denke, kann ich es mir kaum vorstellen, aber es war so: Bei der nächsten Leiche handelte es sich um die Überreste von jemandem, der von einem Hochgeschwindigkeitszug überrollt worden war. Ich habe das Bild noch vor Augen, wie ich das Gesicht in der Hand hielt, abgetrennt vom Kopf. Wie eine Maske. Ein Fetzen Haut, mehr war das nicht. Die Kopfhaare deuteten darauf hin, dass er – es war ein Mann, so viel konnte man sagen – asiatischer Abstammung gewesen sein könnte. Das größte Teil, das sie an den Gleisen in der Nähe der Southall Railway Station von ihm gefunden hatten, war ein Stück vom Torso, mit dem linken Arm, aber ohne Hand. Die hatten sie extra einsammeln müssen wie alle anderen Überreste. Das Herz war komplett erhalten, die Lunge
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher