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Spuren des Todes (German Edition)

Spuren des Todes (German Edition)

Titel: Spuren des Todes (German Edition)
Autoren: Judith O'Higgins , Fred Sellin
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stand dicht vor mir und wartete, bis sich unsere Blicke begegneten, dann sagte sie mit leiser, aber fester Stimme: »Judith …, das ist Chris Dagley!«
    Ich hörte, was sie sagte, aber es kam nicht wirklich bei mir an. Mit einem Mal drehte sich alles um mich herum, als wäre ich in einen Strudel geraten, der sich nicht anhalten ließ. Meine Knie wurden butterweich. Dann war es plötzlich ganz still, und ich sah auch nichts mehr, außer weißem Nebel. Aus meinem Körper schwand jegliche Kraft, ich sackte zusammen.
    Die nächsten Stunden erlebte ich wie in Trance. Das war nicht mehr real. Ich kam mir vor wie in einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wurde. Und ich mittendrin, unfähig, meine Gedanken sortiert zu bekommen. Es waren auch eher Gedankenblitze – sie kamen und verschwanden augenblicklich wieder. Keiner ließ sich festhalten.
    Irgendwann sagte ich: »Ich muss ihn sehen!« An diesen Satz klammerte ich mich fest, als wäre er ein Rettungsring, den man einem Schiffbrüchigen zugeworfen hatte. Ich brauchte eine Abschiednahme. Das Bild, wie ich seinen Kopf in der Hand gehalten hatte, durfte nicht das Letzte sein, dass mir von ihm blieb.
    Zwei Sektionsgehilfinnen bereiteten alles vor. Dann stand ich an der Stelle, wo sonst die Angehörigen hingeführt wurden, flankiert von Shirley und der Polizistin. Ein kleiner Raum mit einer großen Glasscheibe, dahinter ein Vorhang, er war noch zugezogen. Erst als die Leiche jenseits der Scheibe aufgebahrt war, öffnete ihn jemand. Diesmal erkannte ich ihn. Sein Gesicht war vom Blut gesäubert. Sie hatten ihm einen Anzug angezogen. Die Stelle am Hals, wo der Kopf angenäht worden war, war durch Kleidung bedeckt. Ich konnte es nicht mehr leugnen – das war Chris.
    Chris stammte aus Dorridge, einem kleinen Ort in den West Midlands. Er war vier Monate jünger als ich. Kennengelernt hatte ich ihn während meiner Studienzeit, als ich eine Famulatur in London absolvierte. Damals ging ich immer zu den Proben des National Youth Jazz Orchestra. Dort spielte er Schlagzeug. Später habe ich ihn auch auf einigen Konzerten gehört.
    Nachdem ich mit Dave zusammengekommen war, in der Zeit, als wir zwischen Hamburg und London pendelten, wurde das
Ronnie Scott’s
an neue Betreiber verkauft, die eine Wiedereröffnung zelebrierten. Eine der Neuerungen war die erwähnte Hausband, die meistens in der gleichen Besetzung spielte. Chris war einer der Musiker.
    Dave spielte bei der Wiedereröffnung, und danach auch ziemlich oft mit der Hausband, als Gastmusiker. Wenn ich bei ihm war, ging ich natürlich mit. Als ich später nach London zog, arbeitete ich anfangs nicht so viel. Dadurch hatte ich mehr Zeit, ihn zu seinen Auftritten zu begleiten. Wir hingen oft mit den Musikern der Hausband zusammen. Meistens trafen wir uns vor den Gigs in
The Dog & Duck
, einem Pub, nur wenige Schritte vom
Ronnie’s
entfernt, auf derselben Straße.
    Es war damals noch gar nicht lange her, dass wir wieder einmal vor dem
Dog & Duck
gestanden hatten. Dave und ich hatten kurz zuvor unser Studio zu Hause in Betrieb genommen. Wir hatten ein Klavier und ein kleines Jazzschlagzeug gekauft und waren noch in der Experimentierphase. Davon erzählten wir Chris. Er war sofort begeistert, und wir fachsimpelten gemeinsam, wie man am besten einen authentischen Jazzsound am Schlagzeug aufnimmt. Er wollte uns so bald wie möglich besuchen, um in unserem Studio mit uns zu tüfteln. Aber dazu war es leider nicht mehr gekommen.
    Chris war ein charismatischer Typ, ein bisschen James-Dean-like. Er genoss das Leben, steckte die Leute mit seinem Lachen an. Ich habe ihn nur mit guter Laune erlebt. Noch dazu war er ein genialer Drummer. Er hat mit vielen Jazzgrößen gespielt, war aber auch als Begleitmusiker im Popbereich gefragt.
Take That
hatte ihn engagiert,
Jamiroquai
, Van Morrison, Lionel Richie, Bette Midler, Liza Minnelli und noch ein paar andere. Trotzdem betrachtete er sich nie als fertigen Musiker, wollte immer noch perfekter werden. Er nahm jeden seiner Auftritte mit einem DAT -Recorder auf, um hinterher zu analysieren, was er verbessern könnte.
    Von der Stelle, an der der Unfall passiert war, wären es nur noch wenige Meilen bis zu ihm nach Hause gewesen. Dort hatte er mit seiner Frau, zwei Töchtern und einem Sohn gelebt.
     
    Noch aus der Mortuary in Uxbridge rief ich Dave an. Ohne dass ich wusste, wie – mit welchen Worten – ich ihm die schreckliche Nachricht mitteilen sollte, wählte ich seine Nummer. Er war zu
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