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Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Titel: Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Autoren: Joachim Kaiser
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Menschen derart von Musik ergriffen  – in einer Passion, in einer Oper –, dass sie plötzlich gemeinsam atmen. Dann muss die Nachbarin auf einmal nicht mehr im Programmheft blättern, und der Nachbar hört zu husten auf. Solche Momente der gebannten Stille innerhalb der Musik erlebt man nur selten, und natürlich sind sie unendlich produktiver und ergreifender als die sterile Lautlosigkeit im schalltoten Tonstudio. Die Stille, die die Musik während eines lebendigen Konzertes selber schafft, steht in einem Wechselverhältnis: Plötzlich merken die Musiker, wie sie das Publikum ergreifen, und diese Ergriffenheit überträgt sich zurück auf die Musiker.
     
    Nun zu den komponierten Pausen. Anton Bruckners zweite, selten aufgeführte Symphonie nennt man Pausensymphonie wegen ihres ersten Satzes, der am Ende von Pausen zerrissen scheint. Das zwölfte Lied des Zyklus Die schöne Müllerin hat Franz Schubert schlicht »Pause« genannt. Das Lied zuvor heißt unverfänglich »Mein«: »Ja, die schöne Müllerin, sie ist mein«, strahlt der junge Mann. Dann die Pause. Und diese Pause hat es in sich. Danach geht alles schief. Die Müllerin verliebt sich in einen Jäger, der junge Mann verzweifelt, sein Ende wird unausweichlich. Ein weiteres Beispiel finden wir in Schumanns Tondichtung Carnaval. Da freilich soll der mit »Pause« überschriebene Satz genau den umgekehrten Effekt bringen, denn er steht direkt vor dem brillanten Schlussstück, dem bekannten Davidsbündler-Marsch gegen die Philister. Die »Pause«
soll hier nicht unterbrechen, nicht innehalten lassen, sondern vielmehr die Musik kopfüber nach vorne stürzen.
     
    Haben Pausen eine Farbe? Klingen oder tönen sie? All diese Eigenschaften haben Pausen für sich genommen natürlich nicht. Ihre Funktion in der Musik hängt davon ab, was vor der Pause ist und was ihr nachfolgt. Es kann ihr zum Beispiel ein ungeheurer Aufschwung oder eine laut klingende Katastrophe vorangegangen sein. Folgt dann eine lange Pause, stellt sich dadurch im Zuhörer eine Reaktion ein. Stand vor der Pause dagegen so etwas wie ein tönender Zusammenbruch, der die Musik immer leiser, immer verzweifelter werden und plötzlich anhalten ließ, als ob sie nicht mehr Atem holen könne – wenn so einer Anspannung eine Pause folgt, reagiert der Zuhörer wieder anders. Er ist gebannt, verstört, beklommen oder neugierig auf »Was wird nun folgen?«. Es gibt unendlich viele Zustände, in die uns eine vermeintlich einfache Pause – an der rechten Stelle eingefügt  – zu versetzen vermag.
    Musik ist kein neutral-motorischer Ablauf, bei dem sich etwas dreht und plötzlich durch irgendetwas stillsteht. Große Musik bewegt (sich) immer. Sie hört nicht auf, sie ist immer in einer inneren Bewegung. Da passiert etwas Emotionales, Affekthaftes, etwas Schwermütiges oder auch Heiteres. Das heißt, in der Musik ist eine Art Inhalt, ein Gehalt. Und Pausen sind wie ein Atemholen der Seele.
     
    Je älter ich werde, desto wichtiger und wesentlicher scheint mir, dass die Interpreten merken – und mit ihnen das Publikum –, dass in der Pause etwas geschieht.
    Eine Pause ist also häufig ein Einschnitt, nach dem nichts mehr ist wie zuvor. Wer das in Perfektion erleben möchte, der höre sich Aufnahmen des Ebène-Streichquartetts an. Dieses junge französische Ensemble, das aus meiner Sicht zu den allerersten Streichquartetten der Welt zählt, hat sich förmlich zu einem Leitmotiv seiner Interpretationen gemacht, dass es nach einer Pause irgendwie anders weitergeht. Sie ändern den Tonfall, wählen eine neue Art zu atmen, eine neue Art zu phrasieren. Zu Deutsch: Sie spielen nicht über die Pause hinweg, sie spielen die Pause. Furtwängler verstand es ebenfalls, ungemein knisternde Pausen zu schaffen, und auch Christian Thielemann ist ein Meister der Pausendramaturgie. Er stellt Spannungen her, die jede Pause umwölben. Darum geht es: Dass ein Künstler, der Musik interpretiert, bei den Pausen weiß, wie wichtig sie sind. Nicht weil sie eine Farbe haben oder klingen, sondern weil sie eine seelische Reaktion in sich enthalten, über die sich die großen Komponisten Gedanken gemacht haben.
     
    Ein Extrembeispiel gibt es von dem Avantgardisten John Cage. Dessen Klavierstück »4'33"« besteht nicht zufällig aus vier Minuten und 33 Sekunden Pause: Der Pianist sitzt vor seinem Flügel und schweigt. Ob Noten, die man aus plakativ-experimentellen Gründen
nicht spielt, eine »Musik der Innenschau«
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