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Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Titel: Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Autoren: Joachim Kaiser
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Stolz müssen alle Chopin-Interpreten ergriffen sein und etwas anklingen lassen.

In der Tiefe
    Gibt es in der klassischen Musik einen
spezifisch deutschen Klang, etwas spezifisch
Deutsches? Und wenn ja: Was bedeutet das?
     
    Man muss sich förmlich zu einer gewissen Unbefangenheit zwingen, wenn man das Wort »deutsch« benutzen und mit gleichsam unschuldigem Patriotismus gleichsetzen möchte. Wie soll das gehen nach dem Zweiten Weltkrieg, Auschwitz und allem, was damit zusammenhängt? Auf der anderen Seite, die große Geschichte der Musik und ihre Reflexion enthält zahlreiche Anregungen, sich mit dem Wort »deutsch« zu beschäftigen. Robert Schumann, nicht nur ein wunderbarer Komponist, sondern auch ein glänzender Musikkritiker, hat einmal über einen Pianisten den ganz unschuldigen Satz geschrieben: »Am Spiele des Virtuosen hätten wir manches zarter, singender, deutscher gewünscht.« Und der Schweizer Dirigent und Musikphilosoph Ernest Ansermet ließ mich regelrecht zusammenzucken, als er in einem Münchener Vortrag formulierte: »Die große deutsche Musik hat der Welt gelehrt, was Tiefe ist.« Deutsch scheint also etwas zu bedeuten, weder Schumann noch Ansermet haben nur Phrasen gedroschen. Aber was? Das wissen wir immer noch nicht. Glücklicherweise brachte mich Honore de Balzac ein bisschen auf die Spur.
    Aus der Feder des großartigen französischen Romanciers stammt der Musikerroman Vetter Pons. Er
handelt von dem französischen Komponisten Pons und dessen deutschem Freund Schmucke. Von diesem sehr herzlich geschilderten Schmucke heißt es, dass er wie alle Deutschen in der Harmonie sehr stark gewesen sei und die Partituren instrumentierte, deren Singstimme Pons lieferte. Genau in diesem Zusammenhang scheint mir der Schlüssel zu unserem Geheimnis zu liegen. Für Balzac ist das deutsche Element in der Musik die Tiefe des Harmonischen. Konkret bedeutet das: Im Orchester kommt es nicht bloß auf die Oberstimme und das Melos an, sondern auch auf die harmonische Fülle. Genau dafür war seit Furtwängler die tiefe Instrumentengruppe der Berliner Philharmoniker so berühmt. Die Celli und Kontrabässe spielten die Akkorde sozusagen nicht von oben, sondern von unten. Und wenn man von dem deutschen Klang der Berliner oder auch dem Dresdner Orchester spricht, bedeutet das, dass kein brillanter Oberstimmenklang dominiert, sondern ein etwas verhaltener, tieferer Klang, der eher von den Bässen und der Harmonie bestimmt wird als von der Melodik.
     
    Als Gegenteil kann man die italienische Musik, die Italianitä ins Spiel bringen, die von Robert Schumann heftig angegriffen wurde. Auch heute noch sagen gestrenge Deutsche, dass die Italianitä aus lauter schönen Melodien bestehe, eine Arie nach der anderen folge, die Begleitung aber nur »schrumm-schrumm« mache, insgesamt eine Art Leierkastenmusik sei. Die deutsche Musik hingegen habe die Vielstimmigkeit von Bach
und das Orchester als psychologischen Kommentar, beispielsweise in den Opern von Wagner oder Strauss. »Deutsch« bedeute also: mehr auf die Tiefe der harmonischen Sprache bezogen, weniger oberstimmenhaft, weniger auf die hübsche Kantilene ausgerichtet.
     
    Gegen eine schöne Melodie hat natürlich niemand etwas. Als Rossini einmal auf Wagner traf, fragte er ihn, ob er etwas gegen schöne Melodien habe, bei ihm gäbe es doch viele »böse Viertelstunden«. Wagner antwortete, dass er die Schönheit der melodischen Blüte keinesfalls unterschätze. Sie sei sehr viel wert – aber etwas anderes eben auch. Und »deutsch« meint nichts weiter, als dass dieses »andere« betont wird.
    Oft habe ich betont, dass der Chilene Claudio Arrau viel deutscher wirke als seine deutschen Kollegen. Das war vielleicht etwas ungeschickt formuliert, aber ich wollte damit zum Ausdruck bringen, dass dieser wunderbare Ausnahmemusiker, den ich sogar das Glück hatte, persönlich kennenzulernen, die Beethoven-Sonaten, Schumann, Brahms und auch Debussy nicht nur meisterhaft spielte, sondern viel werktreuer, ernsthafter und philologischer als andere Pianisten. Ihm ging es im hohen Maße um die musikalische Sache, um die Erfülltheit dieser Musik und nur ganz wenig um den Effekt.
     
    Kein Mensch nimmt es den Franzosen übel, wenn sie sich stolz über ihre impressionistischen Malergenies äußern. Oder warum sollten die Russen nicht auf ihre
großen Romanautoren Tolstoi und Dostojewski stolz sein? Hingegen: Die Sonate ist ein typisch deutscher Gegenstand. Wir empfinden als
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