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Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
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Menschen eilte die Stufen empor. An ihren Pelzjacken glänzten goldene Knöpfe, die Haare waren kurz geschoren, die Gesichter golden geschminkt. Es waren die Wahrsager von Imris; weise Männer und Frauen, die den Lauf der Gezeiten kannten und das Wetter beobachteten, die den Fischern verrieten, wo sie ihre Netze auswerfen sollten, und sie vor Stürmen warnten. Viele Geheimnisse umgab die Gemeinschaft der Wahrsager. Man erzählte sich, dass sie einst die alten Götter verehrt hätten und zudem heimliche Mondjünger seien. Angeblich hatten sie im ersten Quellenkrieg gegen die Tathrilya gekämpft und versucht, den Priestern die Klaue des Winters zu entreißen. Doch das waren nur Gerüchte. Obwohl die Tathril-Kirche immer wieder gegen die Wahrsager hetzte, waren sie in der Stadt hoch angesehen.
    »Wenn die Goldéi die Stadt erreichen, werden wir längst in Sicherheit sein.« Eine Frau löste sich aus Gruppe. Ihr faltiges Gesicht ließ ein hohes Alter erahnen. »Niemand muss kämpfen, niemand muss fliehen. Imris wird gerettet werden.«
    »Was redet Ihr da?« Tenmor Imer musterte sie abschätzig. »Wir haben nicht die Zeit, uns das Geschwätz einer Wahrsagerin anzuhören. Aroc droht der Untergang!«
    Sie nickte. »Aroc droht der Untergang, aber Imris wird leben. Lange genug hat Sternengänger uns mit falschen Legenden beherrscht. Doch am Ende siegt die Wahrheit! Wir sind den Gewalten der Sphäre nicht ausgeliefert. Wir können uns wehren! Die Stadt aller Städte öffnet ihre Tore … wir müssen sie nur durchschreiten.«
    »Was soll dieses Gefasel?« Tenmor fuhr zu den Rittern herum. »Schafft mir das Weib aus dem Weg!«
    Der vorderste Ritter schüttelte den Kopf. »Ihr solltet sie besser reden lassen. Sie weiß mehr, als Ihr glaubt.«
    Tenmor verlor die Fassung. »Ist das eine Verschwörung?« Er starrte die Wahrsagerin feindselig an. »Steckt etwa ihr hinter all dem? Hinter der Entmachtung der Priester und dem Angriff der Frondörfer? Ist das euer Werk?«
    »Die Dorfbewohner wollen sich nur retten«, sagte die Wahrsagerin sanft, »nach Imris, der letzten Zuflucht, ehe sich die Neun Pforten für immer schließen. Auch ihnen wird Mondschlund seine Gnade erweisen.«
    Die Ratsmitglieder tauschten entsetzte Blicke.
    »Mondschlund«, wisperte der Bootsmeister. »Der Herr der Schatten … Tathril stehe uns bei!«
    »Dann ist es also wahr«, fauchte Tenmor. »Ihr Wahrsager dient dem Blender, und dies soll die Stunde seines Triumphes sein. Ihr habt all dies gewusst … dass die Goldéi kommen und die Klaue des Winters sich gegen uns richtet. Ihr wusstet es und habt nichts unternommen.«
    »Das Zeitalter der Wandlung kann niemand aufhalten. Sternengänger hat den Untergang von Gharax beschlossen, aber Mondschlund reicht uns Menschen die Hand. Es liegt an uns, ob wir sie ergreifen.«
    Das Blut hatte die Treppe erreicht. Es tröpfelte über die Kante der obersten Stufe und sammelte sich in einer Vertiefung.
    »Die Stadt aller Städte kehrt ans Tageslicht zurück. Sie breitet sich aus und greift nach den letzten Städten, die von den Goldéi verschont wurden.« Die Wahrsagerin riss sich ein Amulett vom Hals. Es war eine goldene Mondsichel. »Dort, auf dem Gipfel von Suuls Nacken, wird ein Jünger des Mondes die Quelle besänftigen. Dann wird Imris sich verwandeln und Teil dieser Stadt werden – der letzten Zuflucht des Menschen.«
    Der Bootsmeister starrte auf das herabrinnende Blut. »Aber Suul … er erwacht! Er wird Rache nehmen.«
    »Suul kehrt zurück«, bestätigte die Wahrsagerin. »Er wird über Aroc herrschen wie in der Alten Zeit. Frost und Winter werden alles Leben auslöschen. Aber Imris kann er nichts anhaben. Deshalb bitte ich Euch – beendet das Gemetzel im Hafen. Ruft die Garde zurück. Nehmt die Dorfbewohner in Frieden auf. Und dann lasst uns gemeinsam Mondschlunds Gnade empfangen.«
    War es ihre Inbrunst, die sie überzeugte, oder der betäubende Geruch des Bluts zu ihren Füßen? Waren es Furcht und Verzweiflung, die ihren Widerstand brachen? Die drei Ratsmitglieder sahen auf die Stadt; sahen die Kämpfe im Hafen; sahen in der Ferne den Nebel und den wilden Tanz der Schneeflocken in der Bucht … und am Stadtrand ein Glitzern, unweit der letzten Häuser von Imris; ein Glitzern, das sich entlang der Neun Pforten ausbreitete und die ganze Bucht erhellte … ein Funkeln, grell wie Sonnenstrahlen auf Glas. Blitze zerrissen die Dunkelheit. In ihrem Licht schimmerten durchsichtige Türme auf, gewaltige Pagoden und
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