Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Splitternest

Titel: Splitternest
Autoren: Markolf Hoffmann
Vom Netzwerk:
Kegel, halb durchsichtig, halb milchig gefärbt. Wie flüssiges Feuer wanderten die Reflexionen über die gläsernen Mauern und tauchten Imris in ein Farbenspiel, das erst von den Wellen, dann von den Eisnadeln weitergetragen wurde: Wogen aus Licht, die mit jedem Blitz heller und heller wurden, die von den gläsernen Türmen hin- und hergeworfen wurden wie in einem Spiegelkabinett, das war und das nicht war, das mit jedem Lidschlag entstand und verging, schön und entsetzlich, wirklich und unwirklich … eine Stadt aus Glas, die danach drängte, Imris zu ersetzen und für alle Zeiten ihren Platz an der Bucht einzunehmen.
     
    In einer uralten Schriftrolle, die im Archiv der Stadt Vara aufbewahrt wurde und nur wenigen Weisen bekannt war, konnte man folgendes über Suuls Tod lesen:
    Durta Slargin, auch Sternengänger genannt, war der Schüler einer legendären Zauberin namens Kahida, die einst über die Insel Tyran herrschte. Auf ihren Befehl wanderte er durch Gharax und unterwarf die Quellen. So gelangte er auch nach Aroc; auf einer schwimmenden Eisscholle setzte er zur Insel über, um die Klaue des Winters zu zähmen. Doch er musste feststellen, dass ihm jemand zuvorgekommen war: sein Widersacher Mondschlund, auch er ein Schüler Kahidas, aber voller Niedertracht. Mondschlund der Blender hatte die Quelle bezwungen und mit dem Bau einer Stadt begonnen. In dieser Stadt wollte er leben und herrschen.
    Sternengänger jedoch forderte ihn heraus. In seiner Bosheit hetzte Mondschlund den Wächter der Quelle auf ihn, den Riesen Suul. Fast wäre Sternengänger im Eishauch des Riesen erfroren. Aber seinem Zauberstab wohnte die Macht des Schwarzen Schlüssels inne, des Metalls der Sphäre. Sternengängers letzter Hieb ließ den Riesen in tausend Splitter zerspringen. Sie begruben Mondschlunds Stadt unter sich, und der Blender wurde in die Sphäre geschleudert. Dort blieb er gefangen und sang traurig von seiner versunkenen Stadt, in der Hoffnung, die Menschen würden ihm zuhören.
    Die Spuren des Kampfes waren noch immer in der Bucht von Imris zu sehen. Die zehn Eisnadeln, welche die Neun Pforten bildeten, waren nichts anderes als Suuls Fingerknöchel, und auf einem Gipfel ruhte sein zerschmettertes Gebiss, die Zähne so scharf wie zur Stunde seines Todes.
     
    Diese Fassung der Legende war auf Aroc unbekannt. Niemand wusste, wie sie nach Vara gelangt war und wer sie aufgeschrieben hatte. Doch die Erwähnung des Namens Mondschlund hatte die Archivare dazu bewogen, das Schriftstück in einem Kelleraum verschwinden zu lassen. Zu gefährlich war das Wissen um den Blender. Sein Name sollte in den Schatten bleiben, die er über die Welt gebracht hatte.
     
    Suuls Nacken … Eine Ebene aus festem Schnee bildete den Gipfel. Wie eine Marmortafel ruhte sie über den Hängen des Gebirgszugs, weiß und makellos. Der Wind hatte sie glatt geschliffen.
    Suuls Hauch wehte hier oben verhaltener als am Fuß des Berges. Doch er war so unmenschlich kalt, dass Talomar kaum atmen konnte. In seiner Nase gefror der Rotz, Mund und Kehle waren wie ausgedorrt. Auf allen vieren schleppte er sich voran.
    »Talomar … warte!«
    Talomar wartete, bis Gubyr zu ihm aufgeschlossen hatte. »Sind wir am Ziel?« fragte er den Candacarer erschöpft.
    »Das Herz der Quelle ist ganz in der Nähe.« Gubyrs Augen waren blutunterlaufen. »Sei stark, mein Freund. Sieh nur auf mich und lass dich nicht von ihr beherrschen. Und hüte dich vor den Glaskindern …«
    Talomar blickte ihn fragend an.
    »Sie sind Geister der Sphäre, die nur an diesem Ort überleben können. Sie erscheinen harmlos, aber sie sind von der Magie der Quelle durchdrungen. Meide ihre Nähe. Und denk an die Mondsichel. Halte sie versteckt. Nur dann beschützt sie dich.«
    Talomar kniff die Augen zusammen und versuchte, die Gipfelebene zu überblicken. Sie führte schräg aufwärts. An ihrem höchsten Punkt ragten Eisnadeln aus dem Schnee. Sie waren zu einem Kreis angeordnet.
    »Die Klaue des Winters«, flüsterte Talomar.
    Sie krochen weiter, kamen aber auf dem festen Schnee kaum voran. Es dauerte lange, bis sie die Eisnadeln erreicht hatten. In ihrer Mitte wirbelte Schnee umher. Eiskristalle funkelten in dem Treiben.
    »Lass dich nicht von ihrer Schönheit täuschen«, sagte Gubyr. Dann zog er sich an einer der Eisnadeln empor. Sie waren von unterschiedlicher Form, einige mannshoch, kristallklar und glatt, andere reichten ihm nur bis zur Hüfte und wirkten brüchig. Über eine solche stieg Gubyr nun
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher