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Splitter

Splitter

Titel: Splitter
Autoren: Sebastian Fitzek
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Patienten?«, fragte er. »Nur wenn es sich um so aussichtsreiche Kandidaten handelt wie Sie.«
    »Aussichtsreich wofür?«
    »Für das Gelingen unseres Experiments.«
    Der Professor nahm die Zeitschrift wieder an sich und legte sie zurück in die Mittelkonsole.
    »Ich will ganz offen zu Ihnen sein, Marc. Ich darf Sie doch so nennen, oder?« Sein Blick fiel auf Marcs Turnschuhe und wanderte dann hoch zum Knie, das durch die Fäden der ausgefransten Jeans schimmerte. »Sie wirken nicht wie jemand, der allzu steif auf Etikette bedacht ist.«
    Marc zuckte mit den Achseln. »Worum geht es bei dem Experiment?«
    »Die BleibtreuKlinik ist weltweit führend auf dem Gebiet der privaten Gedächtnisforschung.«
    Der Professor überkreuzte seine Beine. Dabei rutschte seine Nadelstreifenhose etwas über die Socke und gab den Blick auf den Ansatz eines behaarten Schienbeins frei.
    »In den letzten Jahrzehnten wurden Hunderte Millionen an Forschungsgeldern investiert, um herauszufinden, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Vereinfacht ausgedrückt geht es dabei hauptsächlich um Fragestellungen, die sich mit dem Thema >Lernen< beschäftigen. Legionen von Forschern waren und sind von dem Gedanken besessen, die Kapazität des Gehirns besser nutzen zu können.« Bleibtreu tippte sich gegen die Schläfe. »Nach wie vor gibt es keinen besseren Hochleistungsrechner als den in unserem Kopf. Theoretisch wäre jeder Mensch dazu in der Lage, nach dem einmaligen Lesen des Telefonbuchs alle Nummern auswendig aufzusagen. Die Fähigkeit, Synapsen zu bilden und damit die Speicherkapazität unseres Gehirns ins nahezu Unendliche zu steigern, ist keine Utopie. Dennoch gehen all diese Forschungsansätze meiner Überzeugung nach in die falsche Richtung.«
    »Ich schätze, Sie verraten mir gleich, wieso.«
    Der Wagen wurde von dem unsichtbaren Fahrer hinter der blickdichten Glasscheibe in einen Kreisverkehr gelenkt. »Weil unser Problem nicht ist, dass wir zu wenig lernen. Im Gegenteil. Unser Problem ist das Vergessen.«
    Marcs Hand wanderte zu dem Pflasterverband im Nacken. Als er sich dieser unbewussten Bewegung gewahr wurde, zog er den Arm sofort wieder zurück. »Nach jüngsten Statistiken wird jedes vierte Kind missbraucht, jede dritte Frau einmal in ihrem Leben sexuell genötigt oder vergewaltigt«, referierte Bleibtreu. »Überhaupt gibt es kaum einen Menschen auf unserem Planeten, der nicht mindestens ein Mal zum Opfer einer Straftat wurde, wovon die Hälfte danach psychologisch betreut werden müsste, zumindest kurzfristig. Doch nicht nur Verbrechen, sondern auch zahlreiche Alltagserlebnisse sorgen oft für Narben in unserem Seelengewebe. Liebeskummer zum Beispiel hat psychologisch betrachtet eine fast noch größere negative Intensität als das Gefühl, einen nahen Angehörigen verloren zu haben.«
    »Das klingt so, als hätten Sie diesen Vortrag schon zigmal gehalten«, warf Marc ein.
    Bleibtreu zog sich einen dunkelblauen Siegelring vom Finger und steckte ihn an die andere Hand. Er lächelte.
    »In der Psychoanalyse ging man bislang den Weg der Aufarbeitung verdrängter Erinnerungen. Wir marschieren mit unserer Forschung in die entgegengesetzte Richtung.«
    »Sie helfen den Menschen, zu vergessen.«
    »Exakt. Wir löschen die negativen Erinnerungen aus dem Bewusstsein unserer Patienten. Endgültig.« Das klingt beängstigend, dachte Marc. Er hatte vermutet, dass das Experiment auf so etwas hinauslaufen würde, und sich schon kurz nach dem Versenden der E-Mail über seine weinselige Aktion geärgert. In nüchternem Zustand hätte er sich niemals auf diese dubiose Anzeige der BleibtreuKlinik gemeldet. Doch an jenem Abend hatte er einen folgenschweren Fehler gemacht und einem Taxifahrer versehentlich seine alte Adresse genannt. Und so hatte er sich plötzlich vor dem kleinen Häuschen wiedergefunden, das immer noch so aussah, als könne jeden Moment die Tür auffliegen und Sandra ihm barfuß und lachend entgegenlaufen.
    Erst das »Zu verkaufen«-Schild im Rasen hatte ihm schmerzhaft seinen Verlust vor Augen geführt. Er hatte sich sofort abgewandt, war die bürgersteinlose Straße zurückgerannt, in der die Nachbarskinder im Sommer auf dem Asphalt spielten und die Haustiere auf den Mülltonnen schliefen, weil hier kein Lebewesen mit der Ankunft des Bösen rechnete. Er war immer schneller gerannt, so schnell er konnte, zurück in sein neues, wertloses Leben, in seine Schöneberger Single-Wohnung, in die er nach seiner Entlassung gezogen
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