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Splitter

Splitter

Titel: Splitter
Autoren: Sebastian Fitzek
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Lederjacke.
2. Kapitel
    Der Professor ging voran, den Flur entlang zum Wohnzimmer. Marc blieb dicht hinter ihm, die Waffe unablässig auf Haberlands Oberkörper gerichtet. Dabei war er froh, dass der alte Mann sich nicht umdrehte und daher seinen drohenden Schwächeanfall nicht wahrnahm. Kaum hatte Marc das Haus betreten, war ihm schwindelig geworden. Der Kopfschmerz, die Übelkeit, die Schweißausbrüche … all die Symptome, die die psychischen Qualen der letzten Stunden noch verstärkt hatten, waren mit einem Mal zurückgekommen. Jetzt wollte er sich am liebsten an Haberlands Schultern festhalten und sich von ihm ziehen lassen. Er war müde, so unerträglich müde, und der Flur schien unendlich viel länger als bei seinem ersten Besuch. »Hören Sie, es tut mir leid«, wiederholte Haberland, als sie das Wohnzimmer betraten, dessen hervorstechendes Merkmal ein offener Kamin war, in dem ein schwächelndes Feuer langsam ausbrannte. Seine Stimme klang ruhig, fast mitleidig. »Ich wünschte wirklich, Sie wären früher gekommen. Jetzt wird die Zeit knapp.«
    Haberlands Augen waren völlig ausdruckslos. Wenn er Angst hatte, konnte er sie ebenso gut verbergen wie der greise Hund, der in einem kleinen Rattankörbchen vor dem Fenster schlief. Das sandfarbene Fellknäuel hatte noch nicht einmal den Kopf gehoben, als sie eingetreten waren. Marc ging in die Mitte des Raumes und sah sich unschlüssig um. »Die Zeit wird knapp? Wie meinen Sie das?«
    »Sehen Sie sich doch an. Sie sind in einem schlimmeren Zustand als meine Wohnung.« Marc erwiderte Haberlands Lächeln, und selbst das tat ihm weh. Die Inneneinrichtung des Hauses war in der Tat ebenso ungewöhnlich wie die Lage mitten im Wald. Kein Möbelstück passte zum anderen. Ein überfülltes Ikearegal stand neben einer eleganten Biedermeierkommode. Fast der gesamte Boden war mit Teppichen ausgelegt, von denen einer unschwer als Badezimmerläufer zu erkennen war, der auch farblich nicht mit dem handgeknüpften, chinesischen Seidenteppich harmonierte. Man musste unweigerlich an eine Rumpelkammer denken, und dennoch schien nichts an diesem Arrangement zufällig. Jeder einzelne Gegenstand, vom Grammophon auf dem Teewagen bis zur Ledercouch, vom Ohrensessel bis zu den Leinenvorhängen, wirkte wie ein Souvenir aus vergangenen Zeiten. So als hätte der Professor Angst, die Erinnerung an eine entscheidende Phase seines Lebens zu verlieren, würde er ein Möbelstück weggeben. Die medizinischen Fachbücher und Zeitschriften, die sich nicht nur in den Regalen und auf dem Schreibtisch, sondern auch auf den Fensterbrettern, dem Fußboden und sogar im Holzkorb neben dem Kamin fanden, wirkten wie ein Bindeglied zwischen all dem Krempel.
    »Setzen Sie sich doch«, bat Haberland, als wäre Marc immer noch ein willkommener Gast. So wie heute Vormittag, als sie ihn bewusstlos auf die bequeme Polstercouch gelegt hatten, in deren Kissen man zu ertrinken drohte. Doch jetzt hätte er sich am liebsten direkt vor das Feuer gesetzt. Ihm war kalt; so kalt wie noch nie zuvor in seinem Leben. »Soll ich noch etwas nachlegen?«, fragte Haberland, als habe er seine Gedanken gelesen.
    Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Holzkorb, zog ein Scheit hervor und warf es in den Kamin. Die Flammen schlugen hoch, und Marc spürte ein nahezu unerträgliches Verlangen, die Hände mitten ins Feuer zu strecken, um endlich die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben. »Was ist mit Ihnen passiert?«
    »Wie bitte?« Er benötigte eine Weile, um seinen Blick von dem Kamin abzuwenden und sich wieder auf Haberland zu konzentrieren. Der Professor musterte ihn von oben bis unten.
    »Ihre Verletzungen? Wie ist das geschehen?«
    »Das war ich selbst.«
    Zu Marcs Erstaunen nickte der alte Psychiater nur. »Das habe ich mir bereits gedacht.«
    »Weshalb ?«
    »Weil Sie sich fragen, ob Sie überhaupt existieren.« Die Wahrheit schien Marc regelrecht auf das Sofa zu drücken. Haberland hatte recht. Genau das war sein Problem. Heute Vormittag noch hatte der Professor sich in Andeutungen verloren, doch jetzt wollte Marc es ganz genau wissen. Deshalb saß er schon wieder auf dieser weichen Couch.
    »Sie wollen wissen, ob Sie real sind. Auch aus diesem Grund haben Sie sich selbst Verletzungen zugefügt. Sie wollten sicherstellen, dass Sie noch etwas spüren.«
    »Woher wissen Sie das?«
    Haberland winkte ab. »Erfahrung. Ich war selbst einmal in einer vergleichbaren Lage wie Sie.« Der Professor sah auf seine Uhr am Handgelenk.
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