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Splitter

Splitter

Titel: Splitter
Autoren: Sebastian Fitzek
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erste Mal, dass eine Ritzerin Ernst machte. Kinder, die sich selbst mit einer Rasierklinge schnitten, um wenigstens irgendein Gefühl zu empfinden, zählten zu den häufigsten Besuchern am »Strand«.
    »Was ist passiert?«, fragte sie leise.
    Er tastete vorsichtig nach dem Pflasterverband im Nacken, den er spätestens übermorgen wieder wechseln lassen musste. »Das ist egal. Meine Scheiße macht deine nicht besser.«
    »Amen.«
    Marc lächelte und sah kurz auf sein Handy, das einen ankommenden Anruf anzeigte. Er drehte sich zur Seite und bemerkte eine Frau in einem schwarzen Trenchcoat, die ihn vom Beckenrand aus mit großen, weit aufgerissenen Augen anstarrte. Offensichtlich war die Polizeipsychologin gerade eingetroffen und mit seiner Herangehensweise nicht ganz einverstanden. Hinter ihr stand ein älterer Mann in einem teuren Nadelstreifenanzug, der ihm freundlich zuwinkte. Er beschloss, beide zu ignorieren.
    »Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, als du deinen ersten Entzug abbrechen wolltest, weil die Schmerzen zu stark wurden? Manchmal fühlt es sich falsch an …« « … das Richtige zu tun. Ja, ja, dieser blöde Spruch kommt mir mittlerweile zum Arsch raus. Aber weißt du, was? Du irrst dich. Das Leben fühlt sich nicht nur falsch an. Es ist falsch. Und dein dummes Gelaber wird mich jetzt nicht davon abhalten … »
    Julia trat zwei Schritte zurück. Es sah so aus, als wolle sie Anlauf nehmen.
    Die Menge hinter ihm stöhnte auf. Marc ignorierte ein weiteres Anklopfen in der Leitung.
    »Okay, okay, dann warte wenigstens noch einen Augenblick, ja? Ich hab dir was mitgebracht …« Er fingerte einen winzigen iPod aus seiner Jackentasche, stellte ihn auf volle Lautstärke und hielt den Kopfhörer dicht an das Handymikrophon. »Ich hoffe, du kannst was hören«, rief er nach oben. »Was soll das denn jetzt werden?«, fragte Julia. Ihre Stimme klang belegt, als wüsste sie, was jetzt kam. »Du weißt doch, der Film ist erst zu Ende, wenn die Musik läuft.«
    Diesmal hatte er einen ihrer Sprüche zitiert. Die wenigen Male, die sie freiwillig zu ihm in die Sprechstunde gekommen war, hatte sie darauf bestanden, einen ganz bestimmten Song zu hören, bevor sie ging. Es war so etwas wie ein Ritual zwischen ihnen geworden.
    »Kid Rock«, sagte er. Der Anfang war viel zu leise und bei dem Wind und den Nebengeräuschen über das Handy ohnehin nicht zu verstehen. Also tat Marc etwas, was er zuletzt als Teenager getan hatte. Er sang. »Roll on, roll on, rollereoaster. »
    Er sah nach oben und meinte zu sehen, wie Julia die Augen schloss. Dann trat sie einen kleinen Schritt vorwärts.
    « We ‘re one day older and one step closer.«
    Die hysterischen Schreckensrufe hinter ihm wurden lauter. Julia trennten nur noch wenige Zentimeter vom Rand des Sprungbretts. Marc sang weiter.
    »Roll on, roll on, there’s mountains to climb.« Die Zehenspitzen von Julias rechtem Fuß lugten bereits über die Kante. Sie hielt weiterhin die Augen geschlossen und das Handy am Ohr.
    »Roll on, we’re … »
    Marc hörte exakt in der Sekunde auf zu singen, als sie ihr linkes Bein nachziehen wollte. Mitten im Refrain. Ein Zittern ging durch Julias Körper. Sie erstarrte in der Laufbewegung und öffnete erstaunt die Augen. »,.. we’re on borrowed time«, flüsterte sie nach einer langen Pause’. Um das Becken herum war es totenstill geworden.
    Er steckte sein Handy in die Hosentasche, suchte Augenkontakt mit ihr und rief: »Glaubst du, es ist besser? Dort, wo du jetzt hingehst?«
    Der Wind zog an den Beinen seiner Jeans und wirbelte das Laub um seine Füße.
    »Alles ist besser«, schrie Julia zurück. »Alles.« Sie weinte.
    »Echt? Also ich hab mich gerade gefragt, ob die dort auch deinen Song spielen.«
    »Du bist so ein Arsch.« Julias Brüllen war in ein Krächzen übergegangen.
    »Wär doch möglich? Ich meine, was, wenn du das nie wieder hören wirst?«
    Mit diesen Worten drehte Marc sich um und marschierte zum fassungslosen Entsetzen der Beamten in Richtung Beckenausgang.
    »Sind Sie wahnsinnig?«, hörte er jemanden rufen. Ein weiterer wütender Kommentar ging in einem kollektiven Aufschrei der Menge unter.
    Marc zog sich gerade an der Aluminiumleiter hoch, als er hinter sich den Aufprall auf den Kacheln hörte. Erst als er aus dem Becken herausgeklettert war, drehte er sich um.
    Julias Handy lag zerborsten an der Stelle, wo er bis eben noch gestanden hatte.
    »Du bist ein Arsch », schrie sie zu ihm herunter. »Jetzt hab ich
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