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Splitter

Splitter

Titel: Splitter
Autoren: Sebastian Fitzek
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erklärten.
    »Was laberst du wieder für Dreck ?«, hörte er sie fragen. Ihr Atem dampfte wütend. »Was für eine Gelegenheit?«
    Der Berliner November war für seine plötzlichen Kälteeinbrüche bekannt, und Marc fragte sich, woran Julia eher sterben würde, an dem Aufprall oder an einer Lungenentzündung. Auch er war völlig unpassend gekleidet. Nicht nur, was das Wetter betraf. Keiner seiner Bekannten lief heute noch in löchrigen Jeans und zerschlissenen Turnschuhen durch die Gegend. Aber keiner von denen hatte ja auch einen Job wie seinen.
    »Wenn du jetzt springst, versuche ich dich aufzufangen«, rief er.
    »Dann gehen wir halt beide drauf.«
    »Möglich. Aber noch wahrscheinlicher ist, dass mein Körper deinen Sprung abfedert.«
    Es war ein gutes Zeichen, dass Julia ihm vor zehn Minuten erlaubt hatte, in den dreckigen Pool hinabzusteigen. Den Feuerwehrmännern hatte sie mit einem sofortigen Kopfsprung gedroht, wenn sie auch nur eine Matte ins leere Becken werfen würden. »Du bist noch im Wachstum, deine Gelenke sind sehr biegsam.«
    Er war sich nicht sicher, ob das bei ihrem Drogenkonsum wirklich stimmte, aber für den Augenblick klang es glaubhaft.
    »Was soll denn diese Scheiße schon wieder heißen?«, brüllte sie zurück.
    Nun konnte er sie auch ohne Telefon verstehen. »Wenn du unglücklich fällst, kannst du die nächsten vierzig Jahre nur noch deine Zunge bewegen. So lange, bis einer der Schläuche, durch den deine Körperflüssigkeiten abtransportiert werden, verstopft ist und du an einer Infektion, einer Thrombose oder einem Schlaganfall verreckst. Willst du das?«
    »Und du? Willst du denn sterben, wenn ich auf dich draufknalle?«
    Julias kehlige Stimme klang nicht wie die einer Dreizehnjährigen. So als hätte sich der Dreck der Straße auf ihre Stimmbänder gelegt, und ihre Stimme verriete jetzt das wahre Alter ihrer Seele.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Marc wahrheitsgemäß. Gleich danach hielt er die Luft an, als Julia von einem Windstoß erfasst wurde und nach vorne schwankte. Doch sie hielt mit den Armen das Gleichgewicht. Noch.
    Diesmal drehte sich Marc nicht zu der aufstöhnenden Menge in seinem Rücken um. Der Lautstärke nach hatten sich zu den Männern der Polizei und der Feuerwehr zahlreiche Schaulustige gesellt.
    »Auf jeden Fall hätte ich ebenso viel Grund zum Springen wie du«, sagte er.
    »Du laberst doch jetzt nur irgend eine Scheiße, um mich abzuhalten.«
    »Ach ja? Wie lange kommst du jetzt schon zum ‚Strand‘, Julia?«
    Marc mochte den Namen, den die Straßenkinder seinem Büro an der Hasenheide gegeben hatten. Strand. Das klang optimistisch und passte doch zu dem menschlichen Treibgut, das die Welle des Schicksals Tag für Tag in sein Büro spülte. Offiziell hieß die Zentrale natürlich anders. Aber selbst in den Akten des Senats war schon lange nicht mehr von der »Jugendsprechstelle Neukölln« die Rede.
    »Wie lange kennen wir uns ?«, fragte er noch einmal. »Keine Ahnung.«
    »Es sind jetzt anderthalb Jahre, Julia. Hab ich dir in dieser Zeit jemals irgend eine Scheiße erzählt?«
    »Weiß nicht.«
    »Habe ich dich ein einziges Mal angelogen? Oder versucht, deine Eltern oder Lehrer zu informieren?« Sie schüttelte den Kopf, zumindest glaubte er das von hier unten zu erkennen. Ihre pechschwarzen Haare fielen ihr über die Schultern.
    »Hab ich irgendjemandem erzählt, wo du anschaffst oder wo du pennst?«
    »Nein.«
    Marc wusste, wenn Julia jetzt sprang, würde er sich genau deswegen rechtfertigen müssen. Doch sollte es ihm gelingen, diesen cracksüchtigen Teenager vom Selbstmord abzuhalten, dann war das einzig und allein dem Umstand zu verdanken, dass er in all den Monaten zuvor ihr Vertrauen gewonnen hatte. Er machte den Menschen keinen Vorwurf, die das nicht verstanden - seinen Freunden beispielsweise, die bis heute nicht begreifen konnten, warum er sein Jurastudium an Asoziale verschwendete, wie sie es nannten, anstatt es in einer Großkanzlei zu Geld zu machen.
    »Du warst nicht da. Sechs Wochen lang«, sagte Julia trotzig.
    »Hör zu, ich stecke nicht in deiner Haut. Ich lebe nicht in deiner Welt. Aber ich habe auch meine Probleme. Und die sind im Augenblick so groß, dass viele andere sich schon längst das Leben genommen hätten.« Oben ruderte Julia wieder mit den Armen. Von hier unten sah es so aus, als wären ihre Ellbogen verdreckt. Aber Marc wusste, dass der dunkle Schorf von den Narben herrührte, die sie sich selbst zufügte. Es war nicht das
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