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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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Sie wusste kaum noch, wofür die Mutter und sie sich gegenseitig bestraften. Die letzte Äußerung, an die sie sich erinnern konnte, lautete: Kriminell, ihr seid alle kriminell. - In ihr selbst wohnten weder Groll noch Zorn.
    Zum Frühstück briet sie sechs Eier und aß sie ohne Brot. Der Lokalteil der Zeitung zeichnete ein unverständliches Bild des Prozesses unter der Headline »Justitia - unbekannt verzogen«. Am Rand der aufgeschlagenen Zeitung hinterließ Ada eine kurze Notiz: Teilfreispruch und Absehen von Strafe. Ihr Handy piepste. Sie las die Nachricht und verzichtete auf Antwort.
    Als sie das Krankenhaus erreichte, war dort der größte Teil des Tages schon von der Morgen- auf die Abendseite getragen worden. Eine Visite, zwei Mahlzeiten, Bettenmachen, Bodenwischen und die dritte Medikamentenrunde gehörten der unmittelbaren Vergangenheit an. Friedfertig lag die Kundschaft in ihren Zimmern, hier und da pfiff ein Fernsehgerät, verschwommenes Gelächter klang von den Baikonen, wo die leichten Fälle mit ihren Besuchern Kaffee tranken und heimlich an Zigaretten zogen. Aus dem Aufenthaltsraum war das Rollen von Würfeln zu hören. Alev bewohnte ein Einzelzimmer. Seine rechte Hand lag oben auf der Bettdecke und zitierte sterbende Frauen aus Vorabendserien. Mit Erstaunen nahm Ada zur Kenntnis, dass seine Nägel geschnitten waren. Er musste die Klauen freiwillig abgelegt haben, gemeinsam mit dem Rest der Maskerade, in der er vor einem Jahr auf Ernst-Bloch eingelaufen war. Vielleicht bereitete er sich in seinem Kokon aus Decken und Verbänden auf die nächste Metamorphose vor. Das Bild vor Adas Augen klärte sich, sie war plötzlich sicher, dass sie ihn in diesen Minuten zum letzten Mal sah.
    Stilsicher, als hätte ihr bisheriges Leben vor allem aus Krankenbesuchen bestanden, ließ sie sich auf der Bettkante nieder, führte nichts bei sich, das sie ihm zwischen die Arme hätte legen können, und nahm stattdessen seine Hand zwischen die ihren. Er fühlte sich gut an. Warm, trocken und freundlich. Geschwisterlich. Sie lächelten sich an wie zwei Mannschaftskapitäne nach dem Kampf, die schon während der ersten Halbzeit Sympathien füreinander entwickelt hatten.
    »Bist du glücklich?«, fragte er, als der Marmeladentopf des gemeinsamen Schweigens bis zur Neige gelöffelt war. Ada nickte.
    »Und du?«
    »Ich glaube schon.«
    »Was wird jetzt geschehen?«
    Er zuckte die Schultern, was im Liegen eine Bewegung des ganzen Körpers unter der Bettdecke verursachte.
    »Mein Vater nimmt mich von der Schule, aus dem Land, vielleicht vom ganzen Kontinent. Vermutlich werde ich die internationale Schule in der Hauptstadt irgendeines Entwicklungslands besuchen. Montevideo. Mogadischu.«
    Sie lächelten sich an, und Ada widerrief spontan den Entschluss, ihm von dem Roman zu erzählen, den er irgendwann schreiben würde, über sie und über die Städte der Welt, die sich so verzweifelt glichen.
    »Und was ist mit der zweiten Instanz?«, fragte sie.
    »Es wäre unsinnig, das Leben mit Warten auf die zweite Instanz zu verbringen. Eine solche gibt es immer. - Aber was wird aus dir? Du warst gut gestern. Alles lag dir zu Füßen.«
    »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich muss ich froh sein, wenn irgendeine Schule mich nimmt.«
    Alev lachte, zeigte seine schwarz verfärbte Mundhöhle und kämpfte die zweite Hand frei, um ihr die Wange zu tätscheln.
    »So will ich dich nicht reden hören. Sie können froh sein, dich zu kriegen. Jeder kann froh sein, wenn er dich kriegt. Dir steht Großes bevor. Es war eine Freude, von dir besiegt zu werden.«
    »Ich habe dich besiegt?«
    »I lost to watch you win. Das weißt du doch.«
    »Je sais. Ich wollte es nur noch mal aus deinem, aus diesem Munde hören.« Mit zwei Fingern fuhr sie ihm zwischen die Lippen, zwängte die Kiefer auseinander und besichtigte den Mikrokosmos einer zerstörten Stadt im Inneren seines Kopfes.
    »Grausam wie die Nacht«, sagte er, als sie ihn freigegeben hatte. »Meine entstellte Stimme, das langsame Bröseln der Vokale und die vertauschten Konsonanten, der angeknackste Kopf und das zerquetschte Gesicht - das alles gehört dir. Nimm dir, was du brauchst.«
    »Mit Odetta und Lindenhauer ist niemals etwas gewesen?«
    »Nichts außer Mathenachhilfe. Es gab keine Göttin neben dir.
    Auch das hast du gewusst!«
    Ada nickte befriedigt.
    »Ich habe eine gute Nachricht für dich«, sagte sie. »Es ist mir gleichgültig, ob du mich anlügst und was du in Wahrheit vorhattest.«
    »Brav
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