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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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bestimmt gehört haben, verstorben. Sie könnten getrost aufhören, hinter diesem Pult herumzusitzen und die ehrbare Dienerin eines toten Königs zu spielen. Sie könnten nach Hause gehen und sich eine andere Beschäftigung suchen. Selbstverständlich werden Sie das nicht tun. Sie werden sogar abstreiten, einer Gottheit zu dienen. Sie dienen dem Recht, und falls Sie sich des Zirkelschlusses bewusst werden, werden Sie innehalten und sich verbessern: Sie dienen der Demokratie, diesem ephebischen Wesen, das sich weigert, den frei gewordenen Thron des Höchsten einzunehmen und stattdessen wie ein Bürschchen auf den Stufen sitzt und dem Volk zulächelt: Seht her, ich bin einer von euch, seht her, ich bin ihr. L'état c'est moi. Der Demokratie dienen Sie, und damit der ideologiefreiesten Ideologie der Welt. Alt ist sie geworden, trägt Runzeln im Gesicht, hat sich längst zum Sterben hingelegt und hält das Zepter nur noch schwach in der Hand, an dessen anderem Ende die virile Wirtschaft mit aller Kraft zieht. Die Kinder der Demokratie sind groß geworden, haben selbst längst Kinder und Enkelkinder, und diese betrachten das Bild der Urmutter mit Gleichgültigkeit. Auch insoweit dienen Sie einer halb toten Göttin.
    Der ideale Mensch unserer demokratischen Grundordnung ist ein geistig-sittliches Wesen und gestaltet seine Freiheiten nicht als diejenige eines isolierten und selbstherrlichen, sondern als die eines gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen Individuums - sagt wer? Ein Verrückter? Ein rettungsloser Idealist, dem beim besten Willen nicht geholfen werden kann?
    Das sagt das Bundesverfassungsgericht. Ich habe es auswendig gelernt.
    Sei's drum. Ich kann Sie nicht hindern, den Beruf auszuüben, für den Sie bezahlt werden. Aber Sie sollen wissen, dass Sie Recht sprechen über eine Gruppe von Menschen, die sich abgewandt hat von den Grundlagen dieses Systems. Sie urteilen über Verständnislose.
    Erlauben Sie mir für einen Moment, als ein >Wir< zu sprechen, vielleicht als literarisches >Wir<, als das >Wir< eines überindividuellen Zusammenhangs, als >Wir< in der Rolle eines Prototyps. Wir schütteln wie ein Mann die Köpfe angesichts des erwähnten höchstrichterlichen Zitats, und unser massenhaftes Kopfschütteln wird eines Tages einen Sturm ergeben, der die Dächer der Häuser davonträgt. Der ideale Mensch ein geistig-sittliches Wesen? Nicht isoliert und selbstherrlich? Gebunden an und bezogen auf die Gemeinschaft? Welche Gemeinschaft, werden wir fragen, und unser Gelächter wird zum donnergrollenden Soundtrack unserer Verständnislosigkeit. Wir sind nicht einmal in der Lage, eine Familie zu gründen, geschweige denn, uns mit einer Partei zu identifizieren! Wissen Sie, was wir wollen? Wir wollen keine Gemeinschaft. Wir wollen unsere Ruhe. Nennen Sie es isoliert. Nennen Sie es selbstherrlich. Wir sind der banalen und kleinkrämerischen Reglementierungen müde, die uns bei Strafe zwingen, ein Licht an unser Fahrrad zu schrauben, mit dem Rauchen bis zum sechzehnten Lebensjahr zu warten und unsere Autos für zwei Euro pro Stunde in ein Kästchen zu stellen, das irgendjemand fein säuberlich auf den Boden gemalt hat, während wenige Flugstunden entfernt ganze Welten verbrennen, vertrocknen, ersaufen, explodieren, verbluten. Wir passen nicht mehr zu diesem Staat, wir sind dem System vorausgeeilt, von den Gedanken und Wünschen vergangener Generationen über die Linie hinausgedrängt worden und stehen außerhalb, kopfschüttelnd, wie es alle paar Jahrzehnte einer Generation passiert. Sehen Sie in die Geschichtsbücher, fragen Sie einen Fachmann Ihres Vertrauens: So etwas kommt vor, so etwas muss vorkommen, andernfalls säßen Sie noch immer mit einer Keule auf der Schulter unter einer Eiche zu Gericht. Wir sind im falschen Zeitalter geboren, wir sind wie Schafe ohne Weide, ohne Schäfer, ohne Stall. Wir irren, umgeben von Wölfen, durch unbesiedeltes Gebiet und müssen uns bei alldem vom Schäferhund der notorischen, sinnentleerten Pflichterfüllung in die Waden beißen lassen. Der Schäferhund, Hohes Gericht, sind unter anderem Sie. Was nützt es uns, dass wir in zwei oder drei Jahrzehnten Recht gehabt haben werden, dass man uns im Nachhinein anerkennend >Die Ersten< nennen wird? Wir sind müde. Wir müssen uns anhören, dass es böse sei, wenn eine Schülerin ihren Lehrer verführt, sittenwidrig, wenn der Lehrer mit dieser Schülerin schläft, anormal, wenn ein dritter Beteiligter das Geschehen
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