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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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zu verbergen. Welche Haltung das war, begriff ich, als er an einem Freitag kurz vor der wöchentlichen Aufführung unserer pantomimischen Operette die Augen zu mir aufhob und mich ansah, als wäre ich die fleischgewordene Mutter Gottes.
    Er kniete gerade unter mir, weshalb ich seinem Blick wie dem eines Hundes begegnete. Die Beziehung von Hunden zu Menschen spiegelt exakt das Verhältnis der Menschen zu Gott. Für einen Hund ist der Mensch die Instanz, die über Leben und Tod, Futter und Verhungern, Freude und Leid gebietet. Der Mensch straft und belohnt, er spricht eine Sprache, die außerhalb des intellektuellen Radius seiner Jünger liegt, und verständigt sich deshalb in Zeichen und Wundern. Seine Beweggründe sind dem Hund nicht einsichtig. Ob der Hund einem gütigen Gebieter oder einer rachsüchtigen Gottheit dient - ein Leben ohne den Menschen ist ein Leben im Nichts und deshalb nicht vorstellbar. Auch unseren höchsten Herrn hätten wir Menschen guten Gewissens ein Herrchen taufen können. Religion ist nichts anderes als die Lehre davon, wie man frei von Erkenntnis gehorcht, und in Herrn Smuteks zu mir aufgehobenen Augen erkannte ich, dass er sich fürs Gehorchen entschieden hatte. Für ein gespieltes Gehorchen, das versteht sich von selbst. Seit dieser Entscheidung kennt Herr Smutek sich selbst, und er kennt die Natur jener Liebe, die ihn zwanzig Jahre lang an seine Frau gebunden hat. So wie er heute hier sitzt, weiß er genau, was er gewonnen hat, indem er sie verlor.
    Alevs Erklärung für Herrn Smuteks Gehorchen klang etwas sachlicher: Der moralische Wert einer Weigerung wäre vielleicht mit zehn von zehn Punkten, der praktische Nutzen aber höchstens mit einem Punkt zu bewerten gewesen, denn es bestand kein Anlass zur Hoffnung, dass im Fall eines Ungehorsams die kleine Privatsammlung an pornographischem Bildmaterial nicht an die Öffentlichkeit gelangt wäre. Wenn von zwei ausschließlichen Varianten eine die Katastrophe, die andere das Warten auf die Katastrophe bereithält, so räumt das Abwarten doch wenigstens dem Zufall eine winzige Chance ein.
    Solange der Mensch pragmatisch handelt, und pragmatisch handelt er stets im Rahmen eines Spiels, lässt er sich berechnen.
    Dem werden Sie mit Vehemenz widersprechen wollen. Berechenbar sei die tote Materie, der Mensch hingegen werde für immer ein Wunder und Rätsel bleiben. Weil wir keine Zeit haben für ausgedehnte Debatten zu diesem Thema, ziehe ich mich auf die Behauptung zurück, es handele sich bei ihrem Unverständnis an diesem Punkt um ein Generationenproblem. Auch wenn Sie selbst noch verdammt jung sind, liegt doch etwas zwischen uns, das gemeinhin eine Generation genannt wird, obwohl man es besser einen zeitgeistlichen Tapetenwechsel nennen sollte. Ihr Geburtsjahr mag mit einer NeunzehnSieben beginnen, vielleicht sogar mit einer Neunzehn-Sechs, während ich der Achter-Serie angehöre, eine späte Acht, beinahe schon eine Neun. Bedenken Sie: Menschen, die in den neunziger Jahren geboren wurden, können heute schon mit funktionierendem Hirn und gelenkiger Zunge zu Ihnen sprechen! Haben Sie nicht erst in den neunziger Jahren Abitur gemacht? Voilà: Ich bin so alt wie Ihre Hochschulreife. Wir rufen uns, auf verschiedenen Planeten stehend, im kosmischen Vorbeirauschen ein paar Worte zu. Was uns verbindet, sind zwei leere Konservendosen mit einem mäßig straff gespannten Bindfaden dazwischen. Der Mensch, sage ich Ihnen auf diesem Weg, lässt sich berechnen, und Herr Smutek handelte nach dem zutreffenden Ergebnis einer aufgelösten Gleichung. Und somit handelte er gut.
    Für den Fall, dass es mir bis hierhin noch nicht gelungen ist, etwas Greifbares über die innere Verfasstheit des Täters zu sagen, möchte ich hinzufügen: Das Wort >Smutek< bedeutet auf Polnisch etwas. Es bedeutet >Traurigkeit<.
    An viel mehr Nützliches kann ich mich, unser gemeinsames Verfahren betreffend, nicht erinnern, oder besser gesagt, ich kann mich erinnern, aber nicht mehr daran, an was. Kennen Sie dieses Gefühl? Es gleicht dem Versuch, einen vergessenen Traum zurückzuholen, und es gibt mir einen letzten, einen wirklich letzten Gedanken ein.
    Gott ist mein Zeuge, pflegt man bei schlechtem Gedächtnis oder ungünstiger Beweislage gern zu rufen. Was für eine aberwitzige Redewendung! Gott ist niemals ein Zeuge gewesen. Gott war immer Richter. Gott war sogar der Inbegriff des Juristen: Stellt Regeln auf, spricht Recht und überlässt anderen das Handeln. Gott ist, wie Sie
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