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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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zu können, was unsere Artgenossen begehen, neben der Fähigkeit sitzt, genau dasselbe zu tun?
    Hier haben Sie die Antwort auf die Frage nach der inneren Verfasstheit des Opfers: Was mich vom Tier unterscheidet, ist meine, relativ gesehen, beträchtliche Intelligenz. Ich brauche keine Seele. Das, woran ich Schaden nehmen könnte, ist nicht vorhanden. Ich möchte, dass Sie das im Gedächtnis behalten, während Sie darüber nachsinnen, wer wem was angetan hat und warum. Wenn ich herausfinden sollte, dass Sie von einem Fall ausgehen, in dem ein von der Scheidungssache Mama gegen Papa korrumpiertes Mädchen unter Ausnutzung seiner Schwäche von bösen Männern missbraucht wurde, ziehe ich meine gesamte Aussage zurück und verweigere unter Berufung auf irgendwelche Prozessrechte, die sich finden lassen werden, jedes weitere Wort.
    Gut. Es ist nicht so einfach, einmal getätigte Aussagen zurückzuziehen, und das Gericht lässt sich, anders als der Rest der Menschheit, nicht erpressen. Zugestanden. Was ich Ihnen sagen möchte, ist eigentlich ganz einfach. Ich versuche es anders.
    Man erwartet manches im Leben. Es mag sein, dass wir noch immer das Glück erwarten - wenn es aber zu uns kommt, dann immer unerwartet. Das ist eine Binsenweisheit, und ich will Sie nicht mit langen Ausführungen darüber langweilen, dass Binsenwahrheiten und Bauernregeln gerade aufgrund ihrer Binsen- und Bauernhaftigkeit in Kürze die letzten gültigen Normen darstellen werden, weil sie ihren Sinn in sich selber tragen und sich nicht bei heruntergemoderten weltanschaulichen Systemen bedienen müssen. Der kurze Sinn der langen Rede ist schlicht: Was auf den ersten Freitagnachmittag mit Herrn Smutek folgte, war die bislang schönste Zeit meines Lebens. Das kam unerwartet, wie es die Angewohnheit des Glücks ist. Sagen Sie Ihrem Sachverständigen, der sich da hinten unentwegt Notizen macht, dass er alles, was er zum Stockholmer Syndrom in seine Unterlagen schreibt, gleich wieder streichen kann. Für derlei Kleinhirnsteckenpferde bin ich zu schlau. Oder zu kaltblütig. Siehe oben. Ich versuche nicht, meine Peiniger zu decken. Ich sage Ihnen, wie es war. Mehr habe ich nicht zu bieten. Für meine Verhältnisse war es eine glückliche Zeit.
    So viel zum Opfer. Kommen wir nun zur inneren Verfasstheit des Täters. Ich glaubte, Herr Smutek müsse sich wie ein Schlachtochse fühlen, dem einmal in der Woche am Freitagnachmittag der Rücken massiert wird, damit sich beim anschließenden Todesschuss kein bitterer Angstsaft in den Muskeln befindet, und dem dann anstelle der Hinrichtung eine Bilderserie präsentiert wird, auf der Bolzenschussgeräte, ausgeweidete Rinder, T-Bone-Steaks mit Kräuterbutter, eben das ganze Ausmaß der Katastrophe zu sehen ist. Alev hingegen meinte, dass Herr Smutek empfinde wie ein Mann, der sich endlich auf dem Highway zu seiner persönlichen Befreiung bewege. Er erklärte mir, dass erst die Möglichkeit von Strafe und Sanktion dem Menschen zu echten Entscheidungsmöglichkeiten verhelfe. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was Herr El Qamar mit seinem Verhalten bezweckte: Er wollte beweisen, dass das Spiel die letztmögliche und deshalb letztglückliche Seinsform für unsere Gattung bereithält. Wissen Sie, was übrig bleibt, wenn man dem Menschen alle Wertvorstellungen nimmt?
    Sagen Sie nichts. Ich sehe Ihnen an, dass Sie es wissen. Der Spieltrieb bleibt. Das Überraschende ist: Herr El Qamar hatte Recht. Sie sitzen heute über eine Gruppe glücklicher Menschen zu Gericht.
    Für Herrn Smutek kann ich als seine Freundin sprechen. Freundschaft zwischen Menschen gedeiht unter totalitären Bedingungen am besten, in Autobahnstaus ab zwanzig Kilometer Länge, während Flugzeugentführungen, Flutkatastrophen oder Streiks der Nahverkehrsbetriebe. Auf diese Weise lernte ich Herrn Smutek besser kennen als je einen Menschen, und deshalb kann ich Ihnen sagen: Am meisten litt er an der Gewissheit, über kurz oder lang seine Frau zu verlieren. Er hat sie geliebt. Wenn er seine Lebensgeschichte erzählte, begann er stets mit dem Moment, in dem er dieser Frau begegnet ist. Wegen dieser Liebe wollte er nicht zuhören, wenn ich ihm die Sinnlosigkeit des Universums erklärte. Verstehen Sie, was es bedeutet, wenn ein kluger Mann so sehr liebt, dass er zu den simpelsten geistigen Erkenntnissen keinen Zugang mehr findet? Trotzdem wirkte er die ganze Zeit über ruhig wie ein Mensch, der sich daran gewöhnt hat, einen großen Kummer vor der Außenwelt
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