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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman
Autoren: Juli Zeh
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spät in der Nacht ans Fenster trat, um den Sternen der Julinacht ein Telegramm an die Eisheilige aufzutragen, stand unten im Garten Smutek, ein lachendes Stück Mensch mit weit ausgebreiteten Armen. Nun haben Sie, liebe Sophie, wollte das Telegramm sagen, am eigenen Leib erfahren, wie berechenbar der Mensch ist. Alles, was ich Ihnen erzählte, diente einem Zweck, und dieser Zweck steht dumm wie ein Schuljunge vor meinem Fenster und freut sich, als gäbe es keinen Grund zur Verzweiflung auf diesem Planeten. Sehen Sie, ich musste die Welt mit Worten in Felder einteilen und mit einem Rahmen versehen, dass sie zum Brett wurde, auf dem wir uns als Spielfiguren bewegen, damit Sie begreifen, dass in einem System ohne rechts und links nur die Regeln gelten können, auf welche die Spieler einer Partie sich geeinigt haben. Sie sind eine von uns. Sie lieben die Wahrheit, obwohl sie nicht an sie glauben. Sie sind ein guter Mensch.
    Das imaginäre Telegramm wurde nicht abgeschickt. Ada winkte Smutek zu mit einer Handbewegung, als wollte sie den Hund des Nachbarn aus der Blumenrabatte vertreiben. Er verstand, winkte zurück und verließ den Garten über die hintere Grundstücksgrenze. Bei der leichten Flanke berührten seine Hände kaum den Zaun. Ada zog sich aus und legte sich ins Bett. In den letzten Nächten hatte ein Traum sich wiederholt. Darin war sie auf Reisen gewesen, hatte viele Städte besucht, war in Autos gefahren, ohne zu wissen, ob sie sich am Steuer oder auf dem Beifahrersitz befand, hatte Hausfassaden betrachtet und in einer unverständlichen Sprache mit den Menschen gesprochen. Vor den Toren von Izmir, Montevideo oder Fitzroy hatten sich Windkraftanlagen auf den Feldern gedreht wie die Giganten eines modernen Don Quichotte. Die ganze Zeit über hatte Ada gewusst, dass sie in einem Roman unterwegs war, den Alev eines Tages schreiben würde. Keinesfalls durfte sie vergessen, ihm davon zu erzählen. Heute ließ sie die Vorhänge offen und sah weiter zu den Sternen hinauf. In dieser Nacht würde sie nur vom Schlafen träumen.
    Am Morgen ging über Bonn die Sonne auf, ohne dass sich dieser Umstand bemerkbar gemacht hätte. Eine dunkelgraue Wolkendecke verbarg den Himmel, Windstöße drückten junge Bäume zu Boden, warfen Mülltonnen um und ließen Autos in der Spur schlingern. Im Radio wurde von Evakuierung, Notstand und Gefahrenprophylaxe gesprochen, das Fernsehen lieferte meteorologische Analysen verschiedener Gewittertypen, im Kino fraß der Nordatlantik New York. In Mitteleuropa herrschte seit neunundfünfzig Jahren Frieden. Die Bonner Baselitz-Ausstellung ging in die sechzehnte Woche, die großen Ferien standen unmittelbar bevor. Smutek packte einen Koffer. Er reinigte die Wohnung und lüftete, bis es nur noch nach Regen und nicht mehr nach Isolationshaft roch. Er schrieb zwei Briefe, einen an seine Frau, den anderen an Ernst-Bloch. Draußen vor der Tür standen seit dem vergangenen Abend zwei Reporter und ein Photograph, in der Nacht waren sie für ein paar Stunden zum Schlafen nach Hause gegangen. Sie drückten sich in den Hauseingang, warfen Papierkügelchen in den Wind und sahen zu, wie diese mit hoher Geschwindigkeit den Bürgersteig hinuntergetrieben wurden. Smutek lächelte. Früher oder später würde der Sturm sie aus den Ecken putzen.
    Als er fertig war, verschickte er eine SMS, die eine genaue Zeit- und Ortsangabe enthielt, setzte sich mit einem Buch auf die Couch und begann zu lesen. Fliegende Bauten. Den Namen der jungen weiblichen Hauptfigur ersetzte er im Kopf durch >Ada<. Ein Ort ist ein Ort. Die Frage, wo man sich befinde, wird für gewöhnlich überschätzt. Wir leben nicht mehr wie Tiere, die sich ihre Futterplätze merken müssen. Essen und Trinken und eine Bettstatt für die Nacht finde ich überall auf der Welt und glaube dennoch, dass Geschmack und Konsistenz des Essens und der Geruch der Laken eine Bedeutung für mich haben könnten. Der blaue Himmel, scheint es, ist zum farbigen Pappdeckel einer Spielesammlung geworden. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht - erst recht. Smutek hatte keine Verständnisprobleme. Die Sätze kamen ihm bekannt vor. Ab und zu hob er den Kopf und tauchte den Blick in das durchgeschüttelte Grün der Baumkronen vor dem Fenster.
    Ada kam nicht vor Mittag aus dem Bett und errechnete, dass sie fast dreizehn Stunden geschlafen hatte. Die Wohnung schien leer, die Türen standen angelehnt, irgendwo schepperte ein Fensterladen gegen die Wand.
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