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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage
Autoren: Ronald Reng
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überqualifiziert. Mit einer Mannschaft, die in der Zweiten Bundesliga wohl eine passable Rolle spielen würde, treten sie in der Regionalliga in Kleinstädten an, die Torgelow, Neustrelitz oder Meuselwitz heißen und wo die Zuschauer hinter einer Stahlrohrbalustrade mit abbröckelndem Lack stehen wie beim FC Bayern Kickers, als er zehn war. Während die Spieler in Torgelow oder Meuselwitz unter der Woche arbeiten gehen, wird ihnen bei RB Leipzig vor dem Training der Creatin-Kinase-Wert im Blut gemessen, der über ihren Energielevel Auskunft geben soll. Der Körperfettanteil wird wöchentlich überprüft, jedes Training wird gefilmt und analysiert, jeder Gegner, ob der Togelower SV Greif oder Germania Halberstadt, wird ihnen vorab zweimal auf Video vorgeführt. Am Morgen vor einem Spiel machen auch sie einen Spaziergang. Das Ritual ist seit 1963 geblieben. Auf den Spaziergang vor dem Auswärtsspiel in Magdeburg begleiteten Polizisten Juris Mannschaft. Die künstlich kreierte Red-Bull-Mannschaft zu hassen ist ein beliebter Sport unter gegnerischen Fans. Für sie gehört es zu den Exzessen der Unterhaltungsbranche Fußball, dass Firmen oder Mäzene zum Selbstzweck einfach Profiteams aus dem Boden stampfen. Für einen Fußballer wie Juri ist Rasenballsport Leipzig ein professioneller Traum, beste Bedingungen, perfekte fachliche Betreuung, sportliche Erfolge. Für Heinz Höher ist der Verein ein Anlass, mal wieder auf Ideen zu kommen.
    Der Schwiegersohn steuert den Kleinbus auf der A9 Richtung Leipzig, Heinz Höher sitzt auf dem Beifahrersitz und sagt zu ihm: »Dreh dich einfach nicht um.« Auf den hinteren Plätzen lassen die sieben Mitglieder des Juri-Judt-Fanklubs die Wodkaflaschen kreisen, es wird geschrien, gesungen und dem Körper andere Geräusche entlockt. Auf dem Rastplatz beobachten Heinz Höher und der Schwiegersohn stumm vor Staunen, wie ihre Mitfahrer sich zunächst auf dem angrenzenden Feld mit Maiskolben selbst versorgen und dann einer den anderen verprügelt. Es ist ein sehr heißer Tag, denkt sich der Schwiegersohn.
    Auf der Fahrt gelingt es Heinz Höher trotz des Lärms in seinem Rücken, sich wie so oft von der Welt um ihn herum zu isolieren und in die eigene Wirklichkeit abzutauchen. Seit er nicht mehr trinkt, ist Winzlinger wieder aufgetaucht, sein fiktiver Gesprächspartner, mit dem er sich die Gedanken ordnet. Jahrelang war es ihm in seinem inneren Nebel nicht mehr gelungen, Dialoge mit Winzlinger zu spinnen. »Ein Buch über dich wird nur ein Erfolg, wenn Juri noch mal Nationalspieler wird oder du in der Gosse landest«, sagt Winzlinger zu ihm, »und ich brauche dir nicht sagen, welche von den zwei Möglichkeiten eher in Erfüllung geht.«
    Winzlinger mochte ja recht haben, vielleicht wurde das Buch kein Erfolg, aber geholfen hat es Heinz Höher ja doch. Bei den Gesprächen für das Buch wurde ihm klar, wie er war, all die 50 Jahre. »Und ich muss sagen, da habe ich schon ziemlich die Achtung vor mir selbst verloren«, sagt er. »Wie ich die anderen Leute behandelt habe; meine Frau, als ich 1966 einfach anordnete, wir würden ohne die neugeborene Tochter in den Urlaub fahren. Oder meine Kinder, als ich bei den Hausaufgaben nur wie eine stille Bedrohung neben ihnen saß, statt ihnen zu helfen.« Er schlägt sich mit der flachen Hand auf die Stirn und lässt die Hand, ganz langsam, bis über die Augen heruntergleiten.
    Neulich saß er neben Pauli, seinem Hund, auf einer Parkbank am Marienberg, eine Frau kam mit ihrem Hund vorbei, und Heinz Höher sprach sie an, fragte, was ist denn Ihrer für ein Mischling. Daraus entwickelte sich ein interessantes Gespräch, die Frau erzählte ihm, dass ihr Mann zur Arbeit aus Norddeutschland nach Nürnberg ziehen musste, wie es ist, zwischen zwei Orten zu leben. Mensch, warum hast du dich früher nie so mit den Leuten unterhalten, fragte sich Heinz Höher. Aber wichtig ist doch, dass er es jetzt, mit 74, endlich tut.
    Wenngleich es immer noch Situationen gibt, in denen er es für durchaus angebracht hält, die Umwelt zu ignorieren. »Nicht umdrehen«, erinnert er sich selbst im Kleinbus, kurz vor Leipzig.
    Zum Spiel der vierten Liga zwischen Rasenballsport Leipzig und der B-Elf von Union Berlin sind über 7000 Zuschauer erschienen. So wie viele Fans Firmenteams ablehnen, so gibt es viele Fans, die von diesen Mannschaften, die neu sind, Größe ausstrahlen und Erfolg versprechen, angezogen werden. Das hatte Heinz Höher nicht ganz zu Ende gedacht: wie man sieben
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