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Spiel Der Sehnsucht

Spiel Der Sehnsucht

Titel: Spiel Der Sehnsucht
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zu Papier gebracht und in brillanten Artikeln veröffentlicht hatte.
    Sie hatte alles gelesen, was er über Psychologie geschrieben hatte, und war von seinem fundierten Wissen zutiefst beeindruckt. Und was noch wichtiger war, er hatte viele ihrer eigenen halbausgegorenen Gedanken darüber, warum Menschen dies oder jenes taten, zu Ende gedacht.
    Eines Tages hatte Lucy es gewagt, ihm einen Brief zu schreiben, und er hatte ihr geantwortet. Von da an kannte ihre Bewunderung für ihn keine Grenzen. Sie hatten seither noch einige Briefe gewechselt, doch niemals hatte sie zu hoffen gewagt, daß sie ihn je persönlich kennenlernen würde. Bis jetzt.
    Allerdings gab es da noch ein großes Hindernis: Ihr Bruder wollte sie nicht weglassen. Sie wußte, wie kleinlich Graham war, wenn es um Geld ging. Von ihren intellektuellen Ambitionen gar nicht zu sprechen. Er hatte es strikt abgelehnt, sie eine Universität besuchen zu lassen, obwohl es schon einige Frauen gab, die das wagten. Lucy mochte bitten, wie sie wollte, Graham blieb stur bei seiner Behauptung, sie sei bereits besser ausgebildet, als es für eine Frau zuträglich sei.
    Es war närrisch zu glauben, er würde ihr die Reise nach London bezahlen, nur damit sie eine Vorlesungsreihe besuchen konnte, noch dazu, wenn diese sich mit Themen befaßte, die Graham als albern und nutzlos betrachtete. Er hatte ihr oft vorgehalten, sie könne ihren Wis-sensdurst anhand der Bibliothek ihres Vaters und durch ihre Arbeit als Gouvernante für seine Kinder hinreichend stillen.
    Lucy fühlte sich eingeengter als je zuvor. Längst hatte sie jedes Buch in der Bibliothek gelesen, und was die Kinder anging, nun, sie waren eben Kinder. Sie konnten das Gespräch mit gebildeten Erwachsenen nicht ersetzen.
    Und einem Vergleich mit dem brillanten Sir James Mawbey konnten sie schon gar nicht standhalten.
    Lucy starrte auf den Brief, befühlte das Papier und träumte einen unmöglichen Traum. Was, wenn sie irgendwie nach London gelangte? Was, wenn sie Sir James träfe und er noch ledig wäre? Wäre es so unwahrscheinlich, daß sie sich voneinander angezogen fühlten?
    Selbstverständlich dachte sie nicht an so frivole Dinge wie Leidenschaft, nicht im Zusammenhang mit dem ernsten Sir James. Mit Sicherheit glaubte er nicht an romantische Liebe, ebensowenig wie sie selbst. Doch Liebe konnte auch aus gegenseitigem Respekt und Bewunderung erwachsen ... Eine solche Form der Zuneigung mußte auch zwischen ihnen möglich sein.
    Lucy fühlte sich wegen ihrer Gedanken plötzlich schuldig und blickte wie ertappt um sich. Doch eines war gewiß: Sie mußte nach London! Wenn sie sich noch lange hier auf dem Land vergrub, würde ihr Verstand verwel-ken wie eine vernachlässigte Pflanze.
    Wieder war ein lauter Schrei zu hören, doch sie achtete nicht darauf. Sie war an die Lautstärke ihrer Neffen gewöhnt. Obwohl Lucy sich nach Kräften bemühte, ihren Schutzbefohlenen bessere Manieren beizubringen, hatte sie es nicht geschafft, ihnen das Schreien abzugewöhnen.
    Stanley, der ältere, war ein hochnäsiges kleines Monster und nur zu ertragen, wenn er schlief. Nachdem er der älteste Sohn und Erbe war, wurde er bereits jetzt als Herr behandelt. Dagegen hatte Derek, sein jüngerer Bruder, es sich zum Lebenszweck gemacht, Stanley dafür zu stra‹-
    fen, daß er der Erstgeborene war. Was Lucys Nichten, Prudence, Charity und Grace betraf, so hegte sie keine Illusionen über deren Charakter-und Geistesgaben.
    Als der Lärm nicht aufhören wollte, steckte sie Sir James'
    Brief seufzend in ihre Tasche. Jetzt mußte sie wohl Frieden stiften zwischen den zwei kleinen streitsüchtigen Jungen. Immerhin hatte sie den älteren Kindern heute früh schon einige Unterrichtsstunden erteilt und danach mit den kleineren einen ausgedehnten Spaziergang unternommen. Da konnte man doch erwarten, daß ihr gelegentlich ein paar ruhige Minuten vergönnt waren.
    Damit war's heute wohl nichts.
    Da hörte man etwas auf den Marmorboden krachen, und Lucy rannte aus dem Morgenzimmer.
    »Stanley! Derek!« rief sie schneidend, und die beiden Jungen fuhren auseinander. Sie waren zehn und neun Jahre alt, fast gleich groß und auch von gleichem Temperament.
    »Er hat mich einen Furz genannt!«
    »Und er mich einen Pferdearsch!«
    Trifft beides zu, dachte Lucy, behielt diese Meinung jedoch wohlweislich für sich.
    Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich die drei Mädchen. Prudence fühlte sich mit ihren zwölf Jahren ihren Brüdern weit überlegen und
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