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SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Gutenbergs neue Galaxis: Vom Glück des digitalen Lesens (German Edition)
Autoren: Hilmar Schmundt
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Altpapiercontainer zu einem kleinen Haufen wie ein Stupa, ein tibetischer Grabhügel. Dann setzt er sich in ein Straßencafé gegenüber, liest eine Zeitung oder ein E-Book, und blickt hin und wieder auf. Dann sieht er, wie oft schon nach wenigen Minuten sein Bücher-Stupa schrumpft, wie das Papier sich aufzulösen scheint, eingespeist in den großen Kreislauf des Lesens.
    Meine eigene Abschiedszeremonie beginnt eher banal. Ich verkaufe Bücher oft an das Berliner Online-Antiquariat Momox. Ich nehme mein Handy, scanne den Strichcode auf dem Umschlag, schon bekomme ich ein Kaufpreisangebot angezeigt. Meist ist es frustrierend niedrig. Aber zumindest weiß ich, dass die Bücher wieder neue Leser finden werden, dass das Wissen zirkuliert.
    Wenn eine Altbücher-Kiste voll ist, bringe ich sie zur Post. Das ist ein ungemein erleichterndes Gefühl. Binnen zwei Wochen erhalte ich mein Geld. Momox ist eine deutsche Erfolgsgeschichte, gegründet von dem damals Arbeitslosen Christian Wegner. Inzwischen hat Wegner mehr als 500 Mitarbeiter. Der Januar ist der umsatzstärkste Monat – dann werden die Weihnachtsgeschenke entsorgt.
    Fünfzehn Prozent der Bücher sind jedoch auch für Momox unverkäuflich. Eigentlich verkauft Wegner die Bücher weiter. Der Rest wird containerweise an ein Recyclingunternehmen verscherbelt. Wegner kennt die Empfindlichkeiten seiner Kunden, Bücher wegzuwerfen gilt hierzulande als Akt der Barbarei: Daher spendet der Internetpionier den Erlös aus dem Recycling an Aufforstungsprojekte, zum Beispiel am Berliner Müggelsee. Dort werden alte Bücher dann sozusagen zu Rotbuchen. Eine tröstliche Vorstellung, dass meine einstigen Papierbücher im Abendwind rauschen.

Mit Google zur Verlobung
    Bedeutet die Ära der elektronischen Lesemaschinen eine Entzauberung der Bücherwelt? Kulturpessimisten befürchten das:
    „…nie scheint Ihr Vater Ihnen ein Buch aus seinem Bestand geschenkt zu haben mit dem Hinweis, dass es einst in einer Bombennacht Schutz und Trost gespendet hat.“
    Der Leserbriefschreiber hat recht, aber anders als er vielleicht vermutet. Meine Eltern haben uns drei Kindern zwar immer viel vorgelesen, aber die Bücher kamen oft aus der Stadtbücherei. Keine Ahnung, durch welche Kinderhände sie heute gehen. Vielleicht schwanken sie auch längst als Buchen im Wind.
    Habent sua fata libelli , heißt es, Bücher haben ihre eigene Geschichte. Das gilt auch im Zeitalter ihrer elektronischen Reproduzierbarkeit. Zumindest geht es mir so mit einem Buch, das bei der Verlobung meiner Eltern eine Rolle spielte, 1959, sieben Jahre vor meiner Geburt.
    Die beiden hatten sich als Schüler in Hannover kennengelernt, dann fast aus den Augen verloren. Mein Vater studierte in München Ingenieurwissenschaften, meine Mutter lebte nach dem Pädagogikstudium als Au-pair bei einer Familie in der nordenglischen Industriestadt Leeds. Sie schrieben sich Briefe, dann besuchte mein Vater sie im Sommer. Sie reisten mit dem Zug, per Anhalter und mit Wanderstiefeln durch Nordengland und Irland. An einem Sommernachmittag machten sie Rast an einem Dorf in den wildromantischen North York Moors unweit von Scarborough.
    Mein Vater holte ein Buch aus seinem Rucksack. „Wir hatten nur das Nötigste mit“, so erzählt meine Mutter gern von diesem Tag: „und er schleppt ausgerechnet Bücher mit herum!“ Sie genießen dieses Gespräch. „Wieso, das war doch Dünndruck“, sagt mein Vater dann.
    Jedenfalls begann er an jenem Sommernachmittag, ihr vorzulesen: „Hyazinth und Rosenblütchen“. Dies Kunstmärchen von Novalis handelt von einem Liebespaar, das durch eine Odyssee auseinander gerissen wird, von Sehnsucht verzehrt.
    Meine Mutter bekam etwas ins Auge. Mein Vater gab ihr sein eigenes Taschentuch, das damals noch aus Baumwolle war, mit handgestickten Initialen. „Aber ich kann doch nicht dein Taschentuch nehmen“, protestierte meine Mutter. „Ach, es bleibt doch in der Familie“, sagte mein Vater. Das war der Heiratsantrag.
    Drei Jahre später war das erste Kind da, sieben Jahre später ich. Novalis sollte im Fall meiner Eltern recht behalten, auch sein Märchen geht glücklich und kinderreich aus.
    „Habt ihr das Buch von damals eigentlich noch?“, fragte ich meine Eltern vor kurzem. Na klar, sie zeigten es mir, ein kleines, ledergebundenes Buch, 300 Gramm leicht, mit einer Widmung von ihm an sie als Erinnerung „Zur Erinnerung an unsere erste gemeinsam gelebte Zeit“. Meine Mutter war damals 23, halb so alt wie
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