Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Autoren: Georg Mascolo
Vom Netzwerk:
Momente aneinander. Es ist auch schwer auszuhalten, wenn einer gerade in jenen Stunden, die man sich mühsam für ihn freihält, schlecht gelaunt ist oder in einer fernen Welt des Vergessens weilt.
    Der Umgang mit den bedürftigen Eltern verlangt Tugenden, die jedem durchgeplanten Alltag widersprechen: Zeit, Muße und die Geduld, zu ertragen, was eigentlich gerade unerträglich ist. Jeder Moment hängt von der Tagesform ab – und je hinfälliger ein Mensch wird, je mehr sich vielleicht auch eine Demenz entwickelt, desto weniger ist diese Tagesform zu beeinflussen oder vorherzusehen.
    An einem Abend, ich will nicht lange bleiben, ich habe noch etwas vor, bittet mein Vater mich um einen Pullover. Inzwischen, im Dezember 2008, bewohnt er ein Zimmer im zweiten Stock. Es gehört zu Station 2.
    Er trägt einen Schlafanzug und liegt bereits im Bett. "Den blauen Pullover", sagt er, "den will ich anziehen."
    "Ist dir denn kalt?"
    "Nee. Aber ich muss ja noch rüber zu mir, über die Straße."
    "Das musst du doch gar nicht."
    "Natürlich." Unwirsch strampelt er die Bettdecke weg.
    "Aber Papa, guck dich mal um. Was siehst du?"
    "Eine Wand."
    "Und daran?"
    "Bilder."
    "Deine Bilder."
    "Natürlich meine Bilder. Sie zeigen Kulk am Lenksee."
    "Das bedeutet doch, dass du in deinem Zimmer bist. Wo sollten sie denn sonst hängen? Möchtest du vielleicht den Fernseher anschalten, für die Nachrichten."
    "Nee."
    "Gibt es noch etwas, was ich für dich tun kann?"
    "Ja, den Pullover."
    Ich denke an Schnupfen, Lungenentzündung, Krankenhaus und beginne von vorn. Ich bin nicht in der Lage, anders zu reagieren.
    "Ist dir doch kalt?"
    Seine Stimme wird laut. "Nein. Ich möchte ihn haben. Und, Herrgott sakra, ich kann ihn mir nicht allein holen. Du weißt das."
    Ich reiche ihm den Pullover. "Ich will etwas am Körper haben", sagt er, während er versucht, ihn über den Kopf zu ziehen.
    "Dann ist dir doch kühl?"
    "Ja", sagt er. "Ja!"
    Ich helfe ihm in den Pullover. Bloß kein Krankenhaus. Mein Vater streicht über den wollenen Stoff. "Eine Hose habe ich aber noch nicht", sagt er dann.
    "Aber die brauchst du im Bett doch wirklich nicht."
    "Im Bett nicht. Auf der Straße schon."
    Mein Vater schiebt die Beine aus dem Bett. Die Luft in seiner Matratze schaukelt, wenn er sich bewegt, sie ist für Menschen gedacht, die viele Stunden am Tag liegen. Bei heftigen Bewegungen verursacht die gequetschte Luft Geräusche. Sie klingt immer lauter an diesem Abend.
    Wir auch.
    "Papa, bitte! Es ist doch Schlafenszeit!"
    "Ja, eben! Deshalb muss ich hier raus!"
    "Ja, eben nicht! Wenn Schlafenszeit ist, bleibt man im Bett! Und ich muss da jetzt auch hin, und deshalb verabschiede ich mich."
    "Du willst gehen? Und ich soll hierbleiben?"
    "Das ist doch dein Zimmer."
    "Ich kann diesen Quatsch nicht mehr hören. Du wirst mir ja wohl nicht die Möglichkeit verwehren, am Ende des Tages in meine Wohnung zurückzukehren."
    Die Nachtschwester rettet uns. Es ist eine von den resoluten. Sie trägt einen strähnigen Pferdeschwanz, ihr Kittel riecht nach Arbeit, und sie findet den richtigen Ton.
    "Na, Herr Thimm, wo wollen Sie denn hin?", fragt sie.
    "Na, in meine Zimmer", antwortet er.
    "Sie sind doch hier zu Hause, in Ihrem Bett, in Ihrem Zimmer."
    "Also ich kann mich mit dieser Interpretation nicht anfreunden", entgegnet ihr mein Vater. "Ich meine, ich gehöre ins Erdgeschoss."
    "Sie müssen sich nicht ins Erdgeschoss begeben, Herr Thimm. Heute geht es nirgendwo mehr hin."
    Als er nach der braunen Umhängetasche greift, die er auf dem Nachttisch verwahrt, greift auch die Schwester zu. "Geben Sie mal her", sagt sie. "Die lege ich hier auf den Tisch. Sonst erhängen Sie sich nachts noch damit. Und erhängte Leichen am Morgen hab ich nicht so gern."
    "Dann kriegen Sie einen Schreck", sagt mein Vater. "Wenn einer der liebenswürdigsten Bewohner sich an der eigenen Tasche aufhängt."
    Erleichtert schließe ich die Tür. Und fliehe aus dem Altersheim.
    Die Politik verliert sich in Profilierungskämpfen" sagt Jürgen Gohde. "Aber das Thema eignet sich nicht für Machtspielchen. Wir reden über Menschen."
    Der Theologe sitzt dem Kuratorium Deutsche Altershilfe vor und leitete auch jenen Beirat, der vor zwei Jahren die Reformvorschläge an das Gesundheitsministerium übergab. Er ist überzeugt, dass sich das Leben von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen mit Hilfe der vorliegenden Konzepte besser gestalten ließe. "Es müssen nur alle wollen."
    An Absichtsbekundungen mangelt es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher