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SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Autoren: Georg Mascolo
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geht, gegenseitig unterstützen. Andere ziehen gleich mit jungen Menschen in ein Mehrgenerationenhaus. Doch noch ist das ein seltenes Modell.
    Die meisten alten Frauen und Männer harren bis zum letzten Moment in ihrem vertrauten Zuhause aus. Es geht in vielen Heimen weniger freundlich zu als in der Bleibe meines Vaters. In manchen Einrichtungen werden die Alten mit Medikamenten ruhiggestellt, damit sie nicht verwirrt umherlaufen. Es wird das Bettzeug nicht regelmäßig gewechselt, es reagiert niemand auf den Notruf. Und immer wieder überfordern die Erinnerungen der alten Menschen die Pfleger und Schwestern, die aus Polen und aus Weißrussland stammen, aus Ecuador, der Ukraine oder der Türkei. Sie kennen andere Erzählungen vom Krieg als jene, die ihre Schutzbefohlenen in sich tragen, ihre Verwandten haben auf anderen Seiten gekämpft, Begriffe wie Haff oder Bomben gehören nicht zu ihrem Sprachschatz. Nicht jedem gelingt es, die bösen Bilder mit Herzlichkeit zu durchdringen. Ein Psychologe, der sich mit der Seele alter Menschen auskennt, ist, obwohl unumstritten wichtig, selten im Stellenplan eines Heims vorgesehen.
    Oft sind nicht einmal die sieben Mindestanforderungen erfüllt, die der Sozialpädagoge Claus Fussek formuliert hat, ein lautstarker Kritiker der Zustände: Nahrung und Flüssigkeit nach Wunsch und Bedarf. Angemessene Unterstützung bei den Ausscheidungen. Angemessene Körperpflege. Aufenthalte an der frischen Luft. Freie Wahl des Zimmernachbarn. Anrede in der Muttersprache. Die Sicherheit, dass in der Todesstunde jemand die Hand hält.
    Eigentlich nicht zu viel verlangt.
    Eine Frau kenne ich, 57 Jahre alt, die hat ihre Mutter aus einem Heim einfach wieder herausgeholt. "Wäre sie noch dort, sie wäre längst erstickt", sagt diese Tochter. Die Mutter erhielt damals Nahrung durch eine Magensonde, dauernd erbrach sie, ständig war der Rachen verschleimt. Seit zwei Jahren lebt die alte Dame wieder auf ihrem Bauernhof. Sie isst und trinkt und feierte vor zehn Wochen ihren zweiundneunzigsten Geburtstag.
    Die Tochter hat eine Agentur in Polen beauftragt, sie zahlt monatlich 260 Euro Gebühr und 1200 Euro an die Frau, die bei der Mutter wohnt. Es sind zwei Polinnen, alle acht Wochen wechseln sie sich ab. Offiziell gelten sie als Haushälterinnen. Denn pflegen dürfen sie als unqualifizierte Arbeitskraft nicht.
    Die Tochter lebt und arbeitet in einer Großstadt, zwei Stunden Autofahrt entfernt, sie fährt beinahe jedes Wochenende. Manchmal ist dann der Garten umgestaltet, oder die altbewährten Handwerker sind verärgert. Dann bewundert die Tochter gefasst die neuen Ziersträucher und verkneift sich auch die Frage nach den unerledigten Reparaturen. "Die Polinnen sind jetzt die Herrinnen im Haus", sagt sie. "Aber ich brauchte eine Lösung – und ein Heim sollte es nie wieder sein."
    Einen Sohn kenne ich, 58 Jahre alt, der in der Zeit der Studentenproteste mit seinem Vater gebrochen hat. Nun streitet dieser Sohn dagegen, für den Vater aufzukommen. Nicht selten bestimmen die alten Konflikte zwischen 68ern und ihren Eltern noch das Alter.
    Die meisten erwachsenen Kinder aber sagen, dass sie die Eltern am liebsten in einer häuslichen Umgebung betreut wissen wollen. Es ist auch volkswirtschaftlich die günstigste Lösung – jedenfalls so lange die Pflegenden durchhalten. Mehr als der Hälfte schmerzt der Rücken. Ein Viertel leidet an Schlafstörungen, ein Fünftel an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und an Magenproblemen. Die Zahlen gelten bereits für Vierzigjährige.
    Viele verlieren Freunde und Bekannte. Sie finden wenig Zeit für Kaffeestündchen oder ausgiebige Telefonate. Allein den monatlichen Schriftverkehr zu erledigen, Widersprüche, Abrechnungen, zehrt einen Sonntagnachmittag auf. Und auch der Urlaub ist oft Pflegezeit.
    Achtzig Prozent der pflegenden Töchter und Söhne fühlen sich "sehr belastet". Sie sagen, das Gefühl dauernder Zeitnot und die emotional schwierigen Situationen bedrückten sie am meisten. Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt, seelischer oder körperlicher, gegen alte Menschen liegt bei mindestens zehn Prozent. Es ist schwer auszuhalten, wenn einer, der einem nahesteht, inmitten seiner Hilflosigkeit schreit, schlägt und spuckt. Manchmal überwiegt das Gefühl von Überforderung derart, dass ein Platz im Altersheim doch die beste Lösung für alle bedeutet. Aber selbst wenn die eigentliche Pflege, das Betten, Waschen, Ankleiden, andere leisten, reihen sich die schwierigen
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