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SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Autoren: Georg Mascolo
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Gohde.
    Der Organismus ist an seinem Ende angelangt", erklärt der Hausarzt an einem freundlichen Tag im Sommer 2009. "Wir machen jetzt nur noch palliativ."
    Die Frau, die sich im Altersheim um Palliativpatienten kümmert, kommt mit einem Golden Retriever. Der Hund ist ausgebildet für den Dienst, den er leisten soll. Er klettert auf einen Stuhl, damit Horst Thimm ihn besser sehen kann, und schiebt den Kopf in dessen Hand. Dann schließt mein Vater die Augen.
    Zweieinhalb Tage lang bewegt er sich nicht. Er liegt da, in ein hellblaues T-Shirt gekleidet, das weiße Haar noch immer dicht, er atmet flach und bewegt sich nicht.
    Meine Mutter und ich wechseln uns ab. Als er sich räuspert, nach zweieinhalb Tagen, ist es gerade meine Zeit. "Katja", sagt er. "Gibst du mir etwas zu trinken? Ich habe schrecklichen Durst."
    Seither hatte mein Vater gute und schlechte Tage, er sagt, sie halten sich die Waage. Er weint oft, und er lächelt oft, und anders als in meiner Kindheit zeigt sich sein Gemüt meist so weich, wie es ist. Viele Stunden lang liegt er in seinem Bett, und jeden Tag erlebt er sein Leben. Besuche ich ihn, kann es passieren, dass er mich ungeduldig und freudig empfängt. Aber möglich ist auch, dass er mich wieder wegschickt. Einmal störte ich mitten in einer Dienstsitzung. Angetan mit einem gebügelten Hemd, saß er im Rollstuhl vor dem Fernsehapparat. Mit einer ausholenden Handbewegung wies er auf mich. "Meine Tochter", so stellte er mich einer imaginären Runde vor.
    Ja doch, antwortete er gleich darauf in meine Richtung, eine Birnensaftschorle nehme er gern, aber dann müsse ich mich wirklich verabschieden. "Wie du siehst, werden hier gerade Konzepte für eine Erweiterung des Jugendschutzgesetzes verhandelt. Nimm es nicht persönlich, aber die Versammlung braucht Ruhe."
    Mit der gleichen Ernsthaftigkeit beobachtet er Scharfschützen auf den Zinnen am Haus gegenüber. Dann kann es geschehen, dass er weint, wenn ich ihn besuche, weil er mich eben noch tot auf dem Boden liegen sah, erwürgt von Partisanenkämpfern, und im Sessel, unter der rot-weiß-gestreiften Decke, zerschossen meinen Bruder. Ich reiche ihm in solchen Augenblicken seine Brille. Nicht immer lässt er sich davon ablenken. Aber manchmal sagt er doch, er müsse wohl dringend mal einen Optiker aufsuchen.
    Häufig bemühen wir die unbeschwerten Jahre seiner Kindheit. Ich habe mich verbündet mit Ostpreußen, jener Gegend, die ich früher nicht beim Namen nennen wollte, weil es so heimatvertrieben klang. Beim Online-Versandhandel werde ich nun als "lieber Freund einer vergessenen Vergangenheit" geführt, doch meinem Vater helfen die Bildbände und CDs, die Erinnerungen zu finden, die ihn bergen.
    Immer noch lebt er an vielen Tagen in der Wirklichkeit des Augenblicks. Bei Sonnenschein zupft er manchmal vom Rollstuhl aus ein wenig Unkraut auf dem hochgelegenen Beet gegenüber dem Goldfischteich. Der Gärtner des Altersheims hat dort Kräuter ausgesät, und samstags kommt ein Küchenjunge und schneidet für den Eintopf Maggikraut. Am Abend, bei den Vorbereitungen zur Nachtruhe, erzählt mein Vater den Schwestern schon mal von der Arbeit im Garten. "Die macht ja auch ein bisschen müde", sagt er zu ihnen.
    Er hat es nie so haben wollen: Pflegeschwestern, die ihn reinigen; ein grüner Herr, der ihn ehrenamtlich unterhält; ehemalige Kollegen, die ihn treu besuchen; Kinder, denen er Mühe bereitet; eine Frau, die nun ihm in den Mantel hilft.
    Er hat es nie so haben wollen, doch er hätte es jederzeit verteidigt. Das ist der Kleister, der unsere Gesellschaft zusammenhält, hätte er gesagt.
    Die Titelgeschichte (DER SPIEGEL 15/2011) fußt auf Katja Thimms Buch "Vatertage. Eine deutsche Geschichte". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 288 Seiten; 18,95 Euro.

Die SPIEGEL-Redakteurin Nicola Abé und Fotograf Ilja C. Hendel wurden im Rahmen des Hansel-Mieth-Preises 2012 ausgezeichnet.
Gefangen in Freiheit
    Keine Gitter, keine Mauern, kein Stacheldraht: Die Strafanstalt auf der norwegischen Insel Bastøy setzt auf Selbstkontrolle anstatt auf Gefängnisdisziplin. Für manchen Häftling ist das Leben dort zu hart, um es zu ertragen.
    Am anderen Ufer lockt die Freiheit. Wenn es dunkel wird, glitzern die Lichter jenseits des Meeres wie Strass. Kaum zwei Seemeilen sind es zum Festland, nur zehn Minuten auf einem taumelnden Schiff.
    Der Junge weint nicht, die Tränen unter seinem Auge sind tätowiert. Er steht im Schnee, groß und breit, er weiß nicht, wohin er
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