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SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)

Titel: SPIEGEL E-Book: Best of SPIEGEL:Ausgezeichnete SPIEGEL-Autorinnen und Autoren des Jahres 2012 (German Edition)
Autoren: Georg Mascolo
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Schwester sagt: "Aber Herr Thimm." Als er die Augen öffnet, blickt er mich an. Er scheint mich nicht zu sehen. "Wo ist mein Sohn? Meine Frau? Sie müssen sich beeilen."
    Er fürchtet den Tod, denke ich. Er will sie um sich wissen.
    Doch mein Vater ringt nicht allein mit jenem Tod, mit dem sein septischer Körper gerade ringt. Er sucht auch dem Tod zu entkommen, dem er als Kind entkam. Das Krankenbett, der Schlauch, die Kanüle schließen Erinnerungen auf. Nun, da der Körper schwach ist und der Geist erschöpft, da er sich ausgeliefert fühlt wie der heranwachsende Junge im Flüchtlingstreck, ist er den vergessen geglaubten Empfindungen preisgegeben. Die alten bösen Bilder erwachen. Mein Vater ist der Wagenlenker, ein Kind noch, das um das Leben der ihm Anvertrauten bangt.
    "Sie haben nicht mehr viel Zeit", sagt er. "Ich habe nicht mehr viel Zeit." Dann legt er die Hand auf meinen Unterarm. "Lange ist dies hier nicht mehr zu halten. Erkennst du die Demarkationslinie?"
    Ich rufe meine Mutter und meinen Bruder an. Sie unternehmen eine Reise und können erst am kommenden Tag zurückkehren. "Sie sind auf dem Weg", sage ich.
    "Wo sind sie?", fragt er, richtet sich auf, schöpft nach Luft. Ich drücke ihn aufs Bett, die Hände auf seinem Brustkorb, der sich kaum bewegt beim Atmen, er soll liegen bleiben, ausruhen. "Wie kannst du mich zurückhalten?", herrscht er mich an. "Siehst du nicht, was hier los ist?"
    "Papa", sage ich, und er wehrt meinen Griff ab, "lass!", flüsternd nun, und seine Finger umklammern meinen Arm. "Da drüben. Nicht bewegen. Leise. Gefahr."
    Er sei im Krankenhaus, "in Sicherheit!", sage ich. Meine Mutter und mein Bruder, "in Sicherheit!"
    "Gift! , schreit mein Vater und reißt an dem Infusionsschlauch.
    Das Krankenhausbett eine Kampfzone. Um uns herum der Tod.
    "Du brauchst die Infusion zum Überleben."
    "Weißt alles besser! Meinst, du habest alles im Griff. Doch das hier hat niemand im Griff." Seine Stimme überschlägt sich, als er schreit, ich solle nicht weitergehen, nicht über diese Linie; Männer! Plünderer! Vergewaltiger! Und flüsternd fragt er, wo der Sohn bleibe und die Frau.
    "Sie schaffen es. Und wir auch."
    "Na hoffentlich." Dann schimpft er über meine Leichtgläubigkeit.
    Die Krankenschwester, die ich hole, sagt: "Aber Herr Thimm!" Der junge Arzt fühlt den Puls und blickt auf die Fieberkurve. Im Morgengrauen legt mein Vater den Kopf auf das Kissen. Seine Finger umklammern meinen Arm. Er schläft.
    Die Erinnerung an die Flucht, das verstehe ich in in dieser Nacht, ist ein Dämon, der meinen Vater beherrscht. All die Jahre hat er den Dämon bezähmt, zog eine Schutzschicht über die Erinnerungen und erfand merkwürdige Rituale der Versicherung.
    Verreisten wir, lud er am Abend zuvor die leeren Koffer und Taschen ins Auto, und in die Zwischenräume stopfte er Decken und Schuhe. "Probepacken" nannte er die Prozedur, und wir scherzten müde, "Papa, wir gehen nicht auf die Flucht." Hatte alles, was wir mitnehmen wollten, theoretisch Platz gefunden, entspannten sich seine Gesichtszüge. Er nahm die leeren Koffer und Taschen aus dem Auto, und wir verstauten Kleidung, Bücher und Stofftiere darin. Wochentags brachte er Brot mit nach Hause, der Laib war oft noch warm, er schwärmte für den Duft, die frische Kruste. Gegessen hat er sie nie. Immer war da der kostbare Rest vom Vortag. So wurde alles Brot altbackener Vorrat. Aber es lag genug im Küchenfach.
    Wohin, warum, wie lange, fragte er, wenn ein Familienmitglied das Haus verließ, und ich wütete über seine Kontrolle. Erst Jahre später verstand ich, dass ihn die Angst trieb, uns zu verlieren, wie er den Vater und die Schwester im Krieg verlor. Ausweise, Impfpass, Adressbuch, alles trug er stets bei sich, als müsse er im nächsten Augenblick aufbrechen. Die braune Umhängetasche begleitete ihn in den Skiurlaub und an die See; sie baumelte an seinem Hals, als er die Studentenzimmer seiner Kinder besuchte, er trug sie unter dem Anorak, sie schien seinen Brustkorb auszubeulen, ich fand sie peinlich. Er hütet es immer noch, dieses abgegriffene Leder. "Papas Täschchen" nennen es mein Bruder und ich heute, und meist klingt es zärtlich. Papas Täschchen ist eine Reliquie. An manchen Tagen findet sich nun ein Butterbrot darin, das mein Vater für den Notfall hortet.
    Es ist an der Zeit, Hartmut Radebold noch einmal zu befragen. "Das sind typische Verhaltensweisen von Kriegskindern, die sie für völlig selbstverständlich halten", sagt
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