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SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

Titel: SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Autoren: Florian Opitz
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vertrödeln, ohne dabei gleichzeitig in den Monitor zu starren. Wie sagte mir Alex am letzten Tag seines Selbstversuchs? »Als Vater würde ich dir das unbedingt empfehlen.« Ich habe es mir hinter die Ohren geschrieben. Ich werde es probieren.
    Doch all das erklärt ja immer noch nicht, warum wir uns eigentlich so hetzen, warum wir das Gefühl nicht loswerden, dass uns die Zeit immer knapper wird, wo doch das Gegenteil der Fall ist. Wir haben insgesamt mehr Zeit als alle Generationen zuvor. Aber wir machen sie uns knapper: Wir laden uns auch mehr auf als unsere Eltern und haben mehr Möglichkeiten als alle Generationen vor uns. Und deswegen stopfen wir unser Leben so voll, dass wir daran zu ersticken drohen. Weil wir nicht mehr an ein wie auch immer aussehendes Leben nach dem Tod glauben, versuchen wir so viel Erfüllung wie möglich in das eine Leben vor dem Tod zu pressen. Das ist ein Grund dafür, dass wir alle rasen. Wir wollen schnell leben. Wir wollen Karriere machen, Geld verdienen, viel reisen, schön wohnen, gut essen und viele Freunde haben und natürlich den perfekten Partner finden … Wir lassen deshalb keine Gelegenheit aus, noch mehr zu erleben, egal, ob beruflich oder privat. Sogar unsere Freizeit wird inzwischen von einem völlig ausgebuchten Terminkalender bestimmt. Dafür haben wir einen Begriff geprägt, den vorherige Generationen gar nicht kannten: Freizeitstress.
    Es liegt an uns, und es ist an jedem Einzelnen, sobald man diese Spirale aus Optionenvielfalt und Hetze durchschaut hat, etwas daran zu ändern.
    Ich kann nicht zwei oder drei Leben in eines packen. Ich kann nur ein Leben leben, muss mich also für eines entscheiden. »Leben heißt aussuchen«, hat nicht nur mein Burn-out-Psychiater gesagt, sondern auch schon Kurt Tucholsky gewusst. Sich für bestimmte Dinge zu entscheiden heißt aber auch, auf andere zu verzichten. Dass man diesen Verzicht nicht als Verlust, sondern als Gewinn begreifen kann und muss, die ausgewählten Dinge wieder richtig erleben zu können, ist vielleicht die wichtigste persönliche Erkenntnis und ein großer Gewinn meiner Reise.
    Wir vergessen zuweilen, dass wir Lebewesen und keine Maschinen oder Computer sind. Weil die 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche laufen und funktionieren, denken wir, wir müssten das auch. Im Wahn, uns möglichst viele Optionen zu eröffnen und offenzuhalten, kennen wir keine Pausen mehr, keine Ruhezeiten, keinen Urlaub, kein Wochenende. Wollen am besten 24 Stunden shoppen, uns amüsieren, das Leben auskosten, uns selbst verwirklichen und erreichbar sein. Oder zumindest die Option zu alldem haben. Unsere Chefs, Kunden oder Auftraggeber danken es uns. Denn auch sie haben es am liebsten, wenn wir 24 Stunden verfügbar sind, so wie ihre Computer, wie ihre Maschinen. Aber die entscheidende Frage ist doch: Wollen wir wirklich so leben?
    Meine Zeitnot, so musste ich nach dem ersten Teil meiner Suche ernüchtert feststellen, ist nicht meine Privatangelegenheit, nicht allein meine individuelle Macke, die man einfach mit einem Zeitmanagementkurs oder einer Therapie loswerden könnte. Und auch das Netz, unsere Computer und Handys sind nicht schuld an allem. Alle Zeitentscheidungen unseres Alltags sind von Zeitvorgaben in der Gesellschaft abhängig und durch sie vorstrukturiert: Arbeitszeiten, Ladenöffnungszeiten, Schulzeiten, Ausbildungszeiten, Behandlungszeiten beim Arzt oder im Krankenhaus. Und all diese Lebensbereiche beschleunigen sich ständig, vielmehr, sie werden ständig beschleunigt, und das in einem rasenden Tempo. Nicht nur ich habe also eine Macke, die ganze Gesellschaft ist auf Speed!
    Nur wenn wir begreifen, warum die Gesellschaft so tickt, wie sie tickt, können wir die eigene Atemlosigkeit wirklich verstehen und vielleicht sogar loswerden. Also woher kommt die ständige Beschleunigung? Wer treibt das große Hamsterrad denn jetzt an? Okay. Einen Teil der Beschleunigung machen wir selbst, weil wir das Tempo lieben und Angst haben, in unserer begrenzten Lebenszeit etwas zu verpassen. Aber der andere Teil, woher kommt der?
    Unsere Zeit wird zunehmend bewirtschaftet. Tempo und Beschleunigung sind wichtig für die Wirtschaft. So lautet das bekannte und wenig hinterfragte Mantra – aus der Wirtschaft. Propagiert von denjenigen, die sich für die Speerspitze, die Elite eines ökonomischen Denkens halten: Unternehmensberater und ihre
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