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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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beatmen Sie sie. Dazu halten Sie ihr die Nase zu und blasen zweimal vorsichtig in ihren Mund. Nicht zu fest, sonst kann ihre Lunge platzen.«
    »Okay, ich versuche es.«
    Er legte das Handy weg und kauerte sich verzweifelt neben Andi. Ihm war klar, dass er bereits verloren hatte – getötet hatte er sie schon vor fünfundzwanzig Jahren. Vor ihm auf der Plattform der Brücke lag das Ergebnis seiner Bösartigkeit. Aber er musste wenigstens versuchen, sie zu retten, das war er ihr schuldig. Er hatte sie auf jede erdenkliche Art verletzt und sie schließlich zu dieser Verzweiflungstat getrieben. Umso wichtiger, dass er sie jetzt nicht im Stich ließ.
    In blinder Panik blickte er sich um, als hoffte er, doch noch jemanden zu finden, der ihm helfen konnte. Aber es war niemand zu sehen.
    Von Kummer und Angst überwältigt dämmerte ihm, dass er vollkommen auf sich allein gestellt war.
    Es war kein leeres Geschwätz gewesen, was er bei Gericht gesagt hatte: Seit seiner Rückkehr nach Amerika brachte er es nicht mehr über sich, Frauen auch nur zu berühren.
    Ihm fiel ein, was Andi im Besprechungszimmer zu ihm gesagt hatte, um ihn zur Aussage zu bewegen: »Manchmal besteht die schwierigste Prüfung darin, dem Feind in sich selbst die Stirn zu bieten.«
    In seinem Fall war der unmittelbare Feind die Angst, eine Frau zu berühren, ausgelöst durch die Erkenntnis, was er Frauen in der Vergangenheit angetan hatte. Der dahinter verborgene Feind war jedoch die Überzeugung, nichts mehr wert zu sein.
    Aber jetzt war es anders. Endlich konnte er etwas Gutes tun. Vorausgesetzt, er schaffte es, seinen eigenen Selbsthass zu überwinden.
    Falls nicht, lud er durch seine Untätigkeit noch mehr Schuld auf sich als durch all seine Taten der Vergangenheit. Denn die größte Sünde von allen ist die Gleichgültigkeit.
    Einer seiner Revolutionsbrüder hatte einmal gesagt: »Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems.« Claymore wusste, dass es jetzt an der Zeit war, die Hände, die einst so viel Gewalt ausgeübt hatten, zu heilenden Händen zu machen und einen abschließenden Akt der Wiedergutmachung zu leisten.

Mittwoch, 2. September 2009 – 19.50 Uhr
    Alex hatte zweimal die Polizei angerufen und vergeblich versucht, ihr die Situation zu erklären. Je mehr er erklärte, desto verworrener klang das Ganze. Bevor er endlich Gene erreicht und Mannings Stimme gehört hatte, hatte er außer Mutmaßungen und Paranoia schließlich nichts vorzuweisen gehabt, warum also hätte sich die Polizei die Mühe machen sollen, in Martines Hotelzimmer nach dem Rechten zu sehen?
    Als er das zweite Mal in der Zentrale anrief und von seinem Anruf bei Gene berichtete, schien sein Gesprächspartner zunächst aufzuhorchen, verlor jedoch das Interesse, als Alex einräumen musste, dass er gar nicht sicher sein konnte, wirklich mit Manning gesprochen zu haben. Außerdem hatte er Gene nur auf dem Handy erreicht und nicht unter der Durchwahl von Martines Hotelzimmer. Der Beamte in der Notrufzentrale wies ihn darauf hin, dass Gene überall sein könnte.
    Ihm blieb also nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass er allein mit der Situation zurechtkommen würde. Als er das Hotel endlich erreichte, sprang er eilig aus dem Auto, warf dem Pagen den Schlüssel zu und rannte in die Lobby. Er kannte Martines Zimmernummer und hastete daher sofort die Treppe hinauf und den Flur entlang. Auf dem Weg überlegte er, ob er noch einmal die Notrufnummer wählen sollte, damit die Polizei mithören konnte, was passierte. Er wusste, dass er gegen Manning keine Chance hatte, zumal dieser die Waffe des bewusstlosen Polizisten an sich genommen hatte.
    Aber Martine schwebte in Gefahr, und er musste sie retten. Bei Melody war er nicht dazu in der Lage gewesen … umso wichtiger, dass er jetzt nicht versagte. Er hatte das Gefühl, seine Existenz rechtfertigen zu müssen, auch wenn er sie dadurch aufs Spiel setzte.
    Vor der Zimmertür hätte ihn fast der Mut verlassen, aber dann tauchten die Gesichter von Martine und Melody vor seinem inneren Auge auf und verschmolzen zu einem einzigen Antlitz. Er wusste, was er zu tun hatte, und hämmerte noch aggressiver an die Tür, als es Gene fünfzig Minuten zuvor getan hatte.
    »Martine!«
    Im Inneren des Zimmers bewegte sich etwas, dann hörte er, wie jemand den Türknauf drehte. Langsam ging die Tür einen Spalt auf … und dann noch ein bisschen weiter. Schließlich war die Öffnung groß genug, dass er Martines verängstigte, in
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