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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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fühlst. Sie resultiert daraus, dass Andi dir etwas bedeutet.«
    »Ja.«
    »Daher schmerzt dich die Strafe jetzt, wo du gelernt hast, etwas für deine Opfer zu empfinden, ironischerweise mehr als früher, als sie dir noch egal waren.«
    Wieder löste sie eine Hand vom Geländer. Sie begann sich umzudrehen, als wollte sie springen.
    »Ja, aber warum sollte Andi für etwas leiden, was ich getan habe?«
    »Weil auch sie schwach ist«, antwortete Andi mit einem boshaften Schimmer in den Augen. »Und weil sie eine Verräterin ist.«
    »Andi!«, schrie er gellend. »So war es aber nicht geplant!«
    Sie drehte sich zu ihm um und packte das Geländer wieder mit beiden Händen.
    »Wie meinst du das?« Sie wimmerte jetzt erneut vor sich hin. Vielleicht hatte sein Schrei Andi wieder hervorgelockt.
    »Ich dachte, das Leid wäre vorbei – für meine Opfer und für mich! Als ich nach Amerika zurückkam, um meine Strafe abzusitzen, war ich ein anderer Mensch. Ich dachte, wenn ich mein Leben verändere, verliere ich auch die Fähigkeit, anderen wehzutun. Ich dachte, von da an könnte der Schmerz nur noch kleiner werden, und das ganze Leid, das ich angerichtet hatte, würde mit der Zeit verblassen. Vielleicht nicht vollständig, aber zumindest so, dass es erträglich würde.«
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du hast geglaubt, der Schmerz deiner Opfer würde verschwinden, nur weil du dein Leben veränderst? So einfach hast du dir das vorgestellt? Weißt du denn nicht, dass der Schmerz der Opfer niemals nachlässt, sondern eher noch schlimmer wird? Deshalb ist es besser, ihm jetzt ein Ende zu machen.«
    Sie ließ mit beiden Händen los und drehte sich um.
    »Nein!«, schrie Claymore.
    Er erwischte ihren Oberkörper mit den Beinen, presste sie zusammen und klammerte sich verzweifelt mit den Händen ans Geländer. Wenn sie sich gewehrt hätte, hätte er nicht die Kraft gehabt, sie zu halten. Aber sie wehrte sich nicht – und half ihm auch nicht. Als er zu ihr hinunterblickte, sah er, dass sie das Bewusstsein verloren hatte.
    Wahrscheinlich der Alkohol , dachte er.
    Hier baumelte er nun an der Golden Gate Bridge und hielt eine bewusstlose Frau mit den Beinen im Schwitzkasten, während seine Hände krampfhaft das Geländer umschlossen. Ihrer beider Leben hing jetzt von ihm ab.

Mittwoch, 2. September 2009 – 19.44 Uhr
    »Ich verstehe ja, dass du mir die Schuld gibst«, sagte Gene und kämpfte gegen die Tränen an. »Aber ich verstehe nicht, warum in deinen Augen alle Frauen so viel Schuld tragen und dein Vater so wenig.«
    »Das mit meinem Vater habe ich dir doch schon erklärt. Im Tierreich gibt es so etwas wie Vergewaltigung nicht.«
    »Aber wir sind nun mal keine Tiere. Für uns gelten nicht die Gesetze des Dschungels, sondern die der Zivilisation. Und dein Vater hat diese Gesetze gebrochen.«
    »Die Naturgesetze hat er nicht gebrochen. Alles, was er getan hat, entsprach genau seiner Natur. Aber du hast gegen die Natur der Frau verstoßen. In der Natur der Frau und Mutter liegt es, ihr Kind aufzuziehen und es zu beschützen, statt es Fremden zu überlassen. Du hättest stolz darauf sein müssen, ein Kind in deinem Schoß zu empfangen, das so starke Gene hat wie ich – auch wenn mein Vater dich dazu zwingen musste.«
    »Du kannst dir also nicht vorstellen, dass die Umstände, unter denen du gezeugt wurdest, unerträglich schmerzhaft für mich waren?«
    »Sex ist immer schmerzhaft. Die physiologischen Reaktionen sind Teil des normalen Schmerzapparats. Das gilt für Männer genauso wie für Frauen.«
    »Aber bei Vergewaltigung geht es nicht um Sex, sondern um Machtausübung.«
    »Ach ja, das alte feministische Klischee. Beim Paarungsverhalten geht es immer um Machtausübung, ob nun beim Kampf der Männer um die besten Frauen oder beim Geschlechtsakt selbst. Warum, glaubst du, liegt beim Sex fast immer einer auf dem anderen? Warum gibt es so viele Sadomaso-Webseiten im Internet?«
    »Also gut«, sagte sie und bemühte sich, der Argumentationskette zu folgen, die er sich da zurechtgebogen hatte. »Und was ist mit all den Männern, die online nach einer Domina in Lack und Leder suchen, die ihnen den Hintern versohlt?«
    »Aber das beweist doch nur, dass ich recht habe! Das ist derselbe Vorgang, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Sex ist immer ein Machtaustausch, völlig egal ob man nun derjenige ist, der die Macht ausübt oder der, der sich ihr unterwirft. Manchmal geht es dabei um tatsächliche Macht, und manchmal ist alles nur
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