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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus
Autoren: Michael Siefener
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ich schließlich.
    »Ihr Onkel hat mir einen versiegelten Brief mitgegeben. Ich
soll ihn Ihnen aushändigen, wenn Sie wegen des Sparbuches bei
mir vorsprechen. Ich hatte Sie bereits den ganzen Tag über in
meinem Büro erwartet und habe den Brief mit hierher genommen,
als Sie nicht kamen. Warten Sie, ich hole ihn.« Er stand auf und
ging aus dem Zimmer.
    Ich begriff nichts mehr. Was sollte diese ganze
Geheimniskrämerei? Gedankenverloren sah ich aus dem Fenster. Es
hatte aufgehört zu regnen. Draußen stand eine tropfnasse
Buche, in deren Blättern sich die Strahlen der Sonne brachen und
einige Sekunden lang ein wahres Feuerwerk an Farben versprühten.
Dann verschwand die Sonne wieder und mit ihr die Farben, als seien
sie ausgeknipst worden – als seien sie nur ein Versprechen
gewesen, das niemals eingelöst würde.
    Der Notar kam zurück und hielt einen verschlossenen
Briefumschlag in der Hand. Er gab ihn mir und setzte sich dann wieder
in den Ohrensessel. Ich drehte den Brief in meinen Händen. Er
war versiegelt. Ich hatte noch nie zuvor das Siegel meines Onkels
gesehen. Es bestand aus einem Kreuz und einem Totenschädel sowie
der Umschrift »MORS VITA EST«, was soviel bedeutete wie
»Der Tod ist das Leben.« Man könnte es aber auch
deuten als: »Das Leben ist Tod.« Es war genauso zweideutig
wie mein verblichener Onkel selbst.
    Ich brach das Siegel auf und zog einen eng beschriebenen Brief aus
dem Umschlag. Sofort las ich ihn. Dabei vergaß ich alles um
mich herum.
     
    Mein herzallerliebster Neffe!
    Wenn Du diese Zeilen liest, wirst Du entweder in Heinrich
Harders Kanzlei oder bei ihm zu Hause sitzen und Du wirst Dich
mächtig wundern. Mehr noch – Du wirst wütend sein.
Wütend auf mich, weil ich Dich zugegebenermaßen an der
Nase herumgeführt habe. Hast Du wirklich geglaubt, dass ich Dir
mein großes Vermögen so einfach vermache, ohne dafür
eine Gegenleistung zu erhalten? Wie war es denn so, eine Woche lang
reich zu sein? Du wirst so wenig wie möglich von meinem Geld
ausgegeben haben, da bin ich mir sicher. Und jetzt ist es weg.
Schade, nicht wahr? Aber fasse Dich, mein Lieblingsneffe, es gibt
eine Möglichkeit, das Geld zurückzuerhalten. Dazu musst Du
lediglich nach meinen Anweisungen handeln. Notar Harder ist
instruiert, Dich danach wieder in Deine Rechte einzusetzen. Er hat
schließlich das Geld nicht für sich genommen – ich
kenne keinen verlässlicheren Mann als ihn –, sondern auf
einem Sperrkonto geparkt. So, nun zu meinen Anweisungen, mein lieber
Junge. Du brauchst nichts weiter zu tun als ein Buch in Deinen Besitz
zu bringen und es dann Heinrich Harder auszuhändigen. Sobald er
das Buch in den Händen hält, wird er das Geld wieder auf
mein – Dein – Sparbuch überweisen. Bei dem Buch
handelt es sich um das Enchiridion Mythologicum des Jesuiten
Philippus Camerarius. Das hört sich recht unspektakulär an,
nicht wahr? Ist es aber nicht, das kannst du mir glauben. Von diesem
Buch ist leider nur noch ein einziges gedrucktes Exemplar bekannt.
Das Verrückteste daran ist, dass dieses eine und einzige
Exemplar sich in Manderscheid befindet – aber leider nicht in
meiner eigenen Bibliothek. Es gibt in Manderscheid einen bedeutenden
Bibliophilen, dessen Sammlung in Fachkreisen weithin berühmt
ist: Friedrich Adolphi. Er wohnt in der Dauner Straße 25. Zu
meinem großen Verdruss wollte mir Adolphi das Buch nicht
verkaufen; er kennt dessen Wert zu gut. Es ist jedoch von
äußerster Wichtigkeit, dass Du das Buch in Deinen Besitz
bringst. Ich kann Dir in diesem Brief nicht erklären, warum das
so ist; darauf wirst Du selbst schon noch früh genug kommen. Es
reicht vorläufig zu sagen, dass dieses Buch mit meinem Freitod
zusammenhängt; schon allein aus dieser Tatsache kannst Du
ersehen, dass es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht.
Ich weiß nicht, wie Du an dieses Buch kommen kannst; Du wirst
Dir selbst einen Weg überlegen müssen, wenn Du den Rest
Deiner Tage sorgenfrei in meinem schönen Haus in Manderscheid
verbringen und von meinem üppigen Sparbuch leben willst. Ich
wage jedoch zu bezweifeln, dass Adolphi Dir das Buch freiwillig
herausgeben wird. Bring das Enchiridion in deinen Besitz und
übergib es dann Notar Harder; er wird keine Fragen
stellen. Du siehst: Ich lasse Dir freie Hand. Ich vertraue Dir, mein
lieber Neffe. Bitte enttäusche mich nicht. Und vergiss nicht,
dass Dir ein hoher Lohn winkt.
    Dein Dich allzeit geliebt habender Onkel Jakob
     
    Ich faltete den Brief
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