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Sommerhaus mit Swimmingpool

Sommerhaus mit Swimmingpool

Titel: Sommerhaus mit Swimmingpool
Autoren: Herman Koch , Pößneck GGP Media GmbH
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Arbeitstag mit Aussicht. Mit Fernsicht, besser gesagt. Eine leicht hügelige Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt, hinter dem das Meer glitzert. Aber ein Tag, der mit einer Theatervorstellung endet, ist wie ein Hotelzimmer, dessen Fenster auf eine blinde Wand hinausgeht. So einTag atmet nicht. Die Luft ist stickig, und das Fenster klemmt und lässt sich nicht öffnen. Das Seufzen und Stöhnen fängt schon morgens um halb neun an, wenn ich zum ersten Mal daran denke. Normalerweise höre ich meinen Patienten nur mit halbem Ohr zu, doch an einem Arbeitstag, der mit einer Theatervorstellung endet, höre ich überhaupt nicht mehr hin. Ich lasse verschiedene Fluchtmöglichkeiten Revue passieren. Krankheit. Grippe. Lebensmittelvergiftung. Ein Verwandter, der sich vor den Zug geworfen hat. Ich denke an die Szene aus dem Film Misery , in der Kathy Bates mit einem Vorschlaghammer James Caan die Füße bricht. Ich könnte mir selber etwas antun. Während der Schlacht um Stalingrad schossen sich Soldaten beider Armeen durch die Hand oder in den Fuß, nur um nicht an die Front geschickt zu werden. Wer dabei erwischt wurde, bekam die Kugel. Mein Patient schwafelt unentwegt weiter über den unbestimmten Schmerz im unteren Rücken, doch ich kann nur an Schusswunden denken. In Mexiko machen die Todesschwadronen der Drogenkartelle eine Kerbe in die Spitze der Kugel, damit sie sich langsamer dreht. Eine langsamer rotierende Kugel richtet mehr Schaden im Körper an. Oder kommt auf der anderen Seite gar nicht mehr raus. Ich erwäge drastische Maßnahmen. Keine halben Sachen. Mit einem gebrochenen kleinen Finger kann man noch immer zu einer Theaterpremiere gehen. Neununddreißig Grad Fieber gilt als faule Ausrede. Nein, ich denke an andere Sachen. An ein Austernmesser, das mir ausrutscht und sich in die Handfläche bohrt, die Spitze kommt auf der anderen Seite wieder raus. Das Bluten fängt erst an, wenn man das Messer herauszieht.
    Theaterstücke, die »aufgrund von Improvisationen« zustande gekommen sind, sind die schlimmsten. Es wird eine Menge genuschelt. Man hört Satzfetzen und Dialoge, die »der Wirklichkeit entnommen« sind. Die Schauspieler tragen selbst geschneiderte Klamotten. Aufführungen mit Improvisationsgrundlage sind in der Regel nicht so lang wie solche mit regulärem Skript, doch es verhält sich mit ihnen wie mit der gefühlten Temperatur, die sich kälter oder wärmer anfühlt, als das Thermometer angibt. Der Blick verhakt sich an den selbst geschneiderten Klamotten. Nach der gefühlten Zeit ist eine halbe Stunde vergangen, doch die Zeiger der Uhr lügen nicht. Man hält die Uhr ans Ohr. Vielleicht ist sie ja stehen geblieben. Doch die Lithiumbatterie hat eine Lebensdauer von anderthalb Jahren. Die Zeit verstreicht lautlos. Man muss bis sechzig zählen und noch einmal hinsehen.
    Wenn man sich mit einem Austernmesser verletzt, droht immer eine Blutvergiftung. Deshalb geht man am besten gleich zum Arzt. Tetanus. Gelbfieber. Hepatitis A. Aber ich habe noch ganz andere Sachen hier. Ich habe hier Fläschchen herumstehen, von denen ein Tropfen genügt, um einen halben Tag lang nichts mehr von der Welt mitzubekommen. Ein weiterer Tropfen und man wacht überhaupt nicht mehr auf. Hunde und Katzen kriegen eine Spritze. Der Mensch kann eigenhändig den Giftbecher leeren. Viel ist dafür nicht nötig. Ein Schnapsglas voll. Neunzig Prozent Wasser und Geschmacksstoffe. Man kann mit Würde Abschied nehmen von Verwandten und geliebten Menschen. Man kann noch einen letzten Witz erzählen. Ich war oft genug dabei. Die meisten lassen sich die allerletzte Gelegenheit für einen Witz nicht entgehen, auch die, die man in ihrem Leben kein einziges Mal bei einem Scherz ertappt hat. Man merkt, dass sie lange darüber nachgedacht haben. Als wollten sie so in Erinnerung bleiben. Letzte Worte. Saloppe letzte Worte. Die Nähe des Todes verlangt eine gewisse Unbeschwertheit, meinen sie. Aber der Tod verlangt gar nichts. Der Tod kommt einen holen. Der Tod will, dass man ihm folgt, vorzugsweise ohne großen Widerstand. »Schenk dir auch einen ein«, sagen sie und leeren das Schnapsglas in einem Zug. Eine Minute später schließen sie die Augen, noch eine Minute später sind sie tot. Es werden selten Tränenvergossen beim letzten Glas. Ich habe nie erlebt, dass einer zu seiner Frau sagte: »Ich habe dich immer geliebt. Du wirst mir fehlen. Und ich dir wahrscheinlich auch.« Nie. Unbeschwertheit. Ein Scherz. Bei Begräbnissen ist es
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