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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht
Autoren: Dan Simmons
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in das Gebäude hinein.
    Dr. Roon tauchte unter der Tür auf und scheuchte sie mit einem Schnippen seiner rosa Hand fort. Weiße Schlieren in den hohen Fenstern oben hätten die Gesichter von Lehrern sein können, die heraussahen. Mr. Van Sykes Gesicht schwebte hinter dem des Rektors in der dunklen Türöffnung.
    Roon rief noch etwas, drehte sich um und machte die große Tür zu. Cordie Cooke bückte sich, hob einen Stein vom Kiesweg hoch und warf ihn nach der Schule. Der Stein prallte von der Fensterscheibe der Haupttür ab.
    »Herrje«, hauchte Kevin.
    Die Tür wurde aufgerissen, und Van Syke stürmte in dem Augenblick heraus, als Cordie ihre beiden kleinen Brüder an den Händen nahm, den Kiesweg entlangging und dann die Depot Street entlang Richtung Schienen. Für ein dickes Mädchen bewegte sie sich ziemlich schnell. Einer ihrer Brüder stolperte, als sie die Third Avenue überquerten, aber Cordie zerrte ihn einfach durch die Luft mit, bis seine Füße wieder den Boden gefunden hatten. Van Syke lief zum Rand des Schulgeländes und blieb dort stehen, seine langen Finger machten Greifbewegungen in der Luft.
    »Herrje«, sagte Kevin wieder.
    »Kommt mit«, sagte Dale. »Ziehen wir Leine. Meine Mom hat gesagt, sie hat nach der Schule für uns alle Zitronenlimonade.«
    Die Gruppe der Jungs verließ mit einem Jubelruf den Schulhof, eilte unter den Ulmen dahin, hüpfte über den Asphaltbelag der Depot Street und rannte der Freiheit, und dem Sommer entgegen.


    Wenige Ereignisse im Leben eines Menschen - zumindest eines Mannes - sind so frei, so übermütig, so grenzenlos umfassend und voller Möglichkeiten wie der erste Sommertag, wenn man ein elfjähriger Junge ist. Der Sommer liegt wie ein großes Festmahl vor einem, die Tage sind voll von üppiger, langsamer Zeit, in der man jeden Gang genießen kann.
    Als er am ersten, köstlichen Morgen der Sommerferien erwachte, war Dale Stewart für einen Moment in der kurzen Dämmerung des Bewußtseins liegengeblieben und hatte schon den Unterschied gekostet, bevor ihm klar wurde, worin der bestand: kein Wecker, kein Ruf seiner Mutter, der ihn und seinen Bruder Lawrence weckte, kein grauer, kalter Nebel, der an die Fensterscheibe drückte, und keine noch grauere, noch kältere Schule, die sie um halb neun erwartete, kein lautstarker Chor von Erwachsenenstimmen, die ihnen sagten, was sie zu tun hatten, welche Schulbuchseite sie aufschlagen mußten, welche Gedanken sie denken mußten. Nein, heute morgen war Vogelzwitschern zu hören, die duftende, warme Sommerluft kam durch die Jalousie, weiter unten in der Straße war das Summen eines Rasenmähers zu hören, als ein Frühaufsteher mit der täglichen Gartenarbeit anfing, und schließlich - hinter den Vorhängen bereits zu sehen - der strahlende, warme Segen des Sonnenscheins, der über die Betten von Dale und Lawrence fiel, als wäre der Vorhang des grauen Schuljahrs hochgezogen worden.
    Dale hatte sich auf die Seite gedreht und die Augen seines Bruders gesehen, die offen waren und über den schwarzen Glasaugen seines Teddybärs herüberblickten. Dann hatte Lawrence sein freudiges Uberbißgrinsen gegrinst, und die beiden Jungs waren aufgesprungen, hatten hastig die Pyjamas abgestreift, Jeans und T-Shirts angezogen, die auf Stühlen lagen, dann saubere weiße Socken und nicht ganz so saubere Turnschuhe, und dann stürmten sie hinaus, trampelten die Treppe hinunter, um ein eiliges Frühstück einzunehmen und mit ihrer Mutter über alberne Dinge zu lachen, und dann ging es hinaus ... auf die Räder, die Straße entlang, fort, direkt in den Sommer hinein.
    Drei Stunden später waren die Brüder in Mike O'Rourkes Hühnerhaus und fläzten mit ihren Freunden auf dem Sprungfedersofa ohne Füße, aufgerissenen Stühlen und auf dem abfallübersäten Boden ihres inoffiziellen Clubhauses. Die anderen waren auch da - Mike, Kevin, Jim Harlen, sogar Duane McBride war von seiner Farm gekommen, solange sein Dad im Genossenschaftsladen einkaufen war -, und alle schienen durch die bestürzende Vielfalt von Möglichkeit, die sich ihnen bot, zur Tatenlosigkeit erstarrt zu sein.
    »Wir könnten zum Stone Creek oder Hartley's Pond fahren«, sagte Kevin. »Schwimmen gehen.«
    »Nn-nnn«, sagte Mike. Er lag auf dem Soda, hatte die Beine über der Rückenlehne hängen, den Rücken auf dem Sprungfederkissen und den Kopf auf einem Fanghandschuh auf dem Boden. Mit einem Gummiband, das er nach jedem Schnalzen wieder spannte, schoß er auf einen Weberknecht
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