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Sommer

Sommer

Titel: Sommer
Autoren: Rainer Maria Rilke
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Leisten und Ausstehn –; werden wir nicht auch später, für immer, wie wirs jetzt lernen, alles Verstehen aufschieben, das Menschliche für unentwirrbar halten, die Geschichte für einen Urwald, dessen Boden wir nie erreichen, weil er unendlich, Schicht über Schicht, auf Gestürztem steht, eine Erscheinung auf dem Rücken des Untergangs –?
    Taxis I (9. 7. 1915), 424f.
    U nd nun Capri. Ach ja. So recht zuzulernen hab ich da nichts. Jacobsen sagt irgendwo: »es erfordert so unendlich viel Takt, mit der Begeisterung umzugehen.« Nun, dieser Ort hat sein Gepräge durch recht übel ausgeübte Begeisterung bekommen; die Fremden sind fort, größtentheils, aber die Spuren ihrer dummen, immer in dieselben Löcher hineinfallenden Bewunderung sind so augenfällig und haften so sehr, daß selbst die ungeheueren Stürme, die die Insel ab und zu in den Rachen nehmen, sie nicht mitreißen. Ich werde jedesmal recht traurig in solchen Landschafts-Ausstellungen, vor dieser deutlichen, preisgekrönten, unanfechtbaren Schönheit. Da es doch schon last zu viel ist, einen Stein am Wege aufzulesen, eine Kastanie, ein welkes Blatt, da schon die Schönheit eines kleinen unscheinbaren und gemeinhin geringen Dinges (wenn man sie einmal erkannt hat) das Herz überfließen macht, was soll man in solchen Schönheits-Konzerten, wo alles Programm-
Nummer ist und erprobt und beabsichtigt und ausgewählt? Es kann sein, daß man mit diesen Schönheits-Bilderbogen anfangen könnte, sehen und lieben zu lernen, aber ich bin ein klein wenig zu fortgeschritten, um davor A und O zu sagen. Das Entzücken-Buchstabieren ist lange hinter mir und darin besteht ja vielleicht meine ganze Lebensfreude und -aufgabe: daß ich, wenn gleich ganz anfängerhaft, unter denen bin, die das Schöne hören und seine Stimme erkennen, selbst wo sie sich kaum aus den Geräuschen heraus hebt; daß ich weiß, daß der liebe Gott uns nicht unter die Dinge gesetzt hat, um auszuwählen, sondern um das Nehmen so gründlich und groß zu betreiben, daß wir schließlich gar nichts anderes als Schönes empfangen können in unserer Liebe, unserer wachen Aufmerksamkeit, unserer gar nicht zu beruhigenden Bewunderung. Und um in diesem Gefühle zuzunehmen, ist hier nicht der Ort. Der Name Paris müßte sich da formen in mir unter dem Einfluß dieser Sehnsucht selbst wenn ich ihn nie gehört hätte, (glaub ich).
    Nein, was die Menschen hier aus einer schönen Insel gemacht haben, ist nah am Abscheulichen. Aber das spricht nicht gegen diese Menschen; es waren auf alle Fälle ernste und tüchtige und bedeutende unter den Tausenden, die da mitgearbeitet haben an Capri. Aber haben Sie je gesehen, daß die Menschen, wo sie sich nach der Seite der Lust, der Erleichterung, des Genießens hin gehen ließen oder bethätigten, zu angenehmen Resultaten kamen? Weder die Stiergefechte noch die Tingeltangel, noch sonstige Vergnügungs-Institute, vom Ball-Lokal bis zum Biergarten auf und ab, sind schön oder erfreulich oder sind es je gewesen. Der Himmel, von dem ich einmal einen aufgeregten Prädikanten in San Clemente habe reden hören, war von zweifelhafter Glücksfülle, geschmacklos und langwei
lig. Aber, ganz im Ernst, ist nicht Dante sogar ein Beweis dafür, dessen Paradiso von so hülflos aufgehäufter Seeligkeit erfüllt ist, ohne Steigerung im Licht, formlos, voller Wiederholungen, gleichsam aus lächelnder engelreiner Verlegenheit gemacht, aus Nicht-Wissen, Nicht-Wissen-Können, aus reiner, seeliger Verlogenheit. Und das Inferno daneben. Welches Kompendium des Lebens. Welches Erkennen, Anrufen, Richten. Welche Wirklichkeit, welche Präzisierung bis ins dunkelste Dunkel hinein; welches Wiedersehen mit der Welt. Daraus folgt nicht, daß das Leiden richtiger wäre als das Glück und die Hingabe und Aussprache und Einräumung desselben; nur: bis jetzt hat die Menschheit noch nicht diese Tiefe, diese Inständigkeit, diese Notwendigkeit im Seeligen erreicht, die ihr im Leiden schon zugänglich geworden ist. (Und darum ist – Capri ein Unding.)
    Heydt (11. 12. 1906), 105f.
    D a kommt nun, liebe Fürstin, mit größter Nachträglichkeit ein Bericht über meine letzten zehn Tage; früher etwas, das Mindeste, zu erzählen, war über meine Mittel, jedes Atom in mir war aus einer schweren stumpfen Stummheit gemacht, – so war's auch nichts mit der guten Zuflucht im Mezzanino ; denn ich hätte Valmarana's sehen müssen und durch sie den und jenen, eine lebendige Außenseite fingieren, sprechen,
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