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Solar

Solar

Titel: Solar
Autoren: Ian McEwan
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sinnlosen Projekt beschäftigt war. Die Antwort war einfach. Sein Vorschlag hatte eine Lawine von Aktenvermerken ausgelöst, detaillierte, hundertsiebenundneunzig Seiten lange Ausarbeitungen, Etatentwürfe, Kostenaufstellungen und Tabellen, die er alle ungelesen abgezeichnet hatte. Und warum? Weil Patrice mit Tarpin eine Affäre hatte und er an nichts anderes mehr denken konnte.
    Als er auf dem Weg zu einem Materialspezialisten an Brabys Büro vorbeikam, fing dieser ihn auf dem Korridor ab und winkte ihn aufgeregt zu sich hinein. Hinter ihm befestigte gerade einer der zwei Pferdeschwänze, die Mike hießen, eine Zeichnung an einer Tafel.
    »Ich denke, wir haben da was«, sagte Braby und schloss hinter Beard die Tür. »Mike hat das eben gebracht.«
    »Kommen Sie nicht auf falsche Gedanken, Professor Beard«, sagte Mike. »Das hier stammt nicht von mir. Ich habe es gefunden.«
    Braby packte Beard am Ärmel und zog ihn vor die Tafel.
    »Sehen Sie sich das an. Was halten Sie davon?«
    Ein großes Blatt mit einer sauberen Konstruktionszeichnung, darum herum ein halbes Dutzend Entwürfe - gekonnt hingeworfene Skizzen, wie man sie aus Leonardos Notizbüchern kannte. Unter den gespannten Blicken der beiden anderen studierte Beard die Hauptzeichnung, eine dicke Säule mit zahllosen Linien und aufgeschnittenen Ansichten, die sich oben zu einer komplett gewundenen Quadrupelhelix auswuchs; an der Basis, weniger detailliert ausgeführt, war ein Generator zu erkennen. Eine der Kritzeleien zeigte ein Dach mit Fernsehantenne, daneben die Helix auf einem kurzen Pfosten, der senkrecht an einen Schornstein geschnallt war - nicht gerade die optimale Befestigung. Zwei Minuten lang sah er sich das schweigend an.
    »Und?«, fragte Braby.
    »Na ja«, murmelte Beard. »Nicht schlecht.«
    Braby lachte. »Das will ich meinen. Keine Ahnung, wie das Ding funktioniert, aber ich weiß einfach, das ist es.«
    »Der gute alte Darrieus-Rotor - der Schneebesen - in neuem Gewand.« In längst vergangenen Zeiten, als er noch glücklich oder jedenfalls weniger besessen verheiratet war, hatte Beard sich einmal einen Nachmittag lang mit der Geschichte der Windturbinen beschäftigt. Damals hatte er die physikalischen Grundlagen für relativ einfach gehalten. »Neu sind die zu einer Helix mit 6o-Grad-Drehung gewundenen Schaufeln. Vier Stück davon, um das Drehmoment zu verteilen und womöglich einen Selbststart zu unterstützen. Vielleicht das Richtige in aufwärts gerichteten Luftströmen. Könnte für Dächer geeignet sein, wer weiß. Also, von wem ist das?«
    Aber er kannte die Antwort bereits, und das verdoppelte seinen Überdruss. Wie der Schwan von Swaffham seinen Durchbruch feiern, die Morgenröte einer neuen Ära der Windturbine anpreisen würde, das konnte er heute unmöglich ertragen. Nächste Woche vielleicht, aber jetzt wollte er sich nur in Ruhe irgendwo hinsetzen und an Patrice denken. Sich zwecklos aufgeilen. So schlimm stand es um ihn.
    Mike kratzte sich am Ansatz seines Pferdeschwanzes, an dem wie ein gestickter Saum hartnäckig das Grau herauswuchs. »Das lag auf Toms Schreibtisch. Offenbar hat er es für uns da liegen lassen. Wir waren begeistert, aber er war nirgendwo zu finden. Also haben wir eine Kopie für die Ingenieure gemacht, und die sind auch sehr angetan.«
    Jock Braby drehte eine aufgeregte Runde, kehrte an sei nen Schreibtisch zurück und riss sein Jackett von der Stuhllehne. Der Snob in Beard wollte den Beamten am liebsten beiseitenehmen und ihm sagen, dass es seit den Codeknackern von Bletchley Park oder mindestens seit Beards Studententagen nicht mehr in Mode sei, mehrere Kugelschreiber in der Brusttasche seines Jacketts zu tragen. Doch er behielt diese Bemerkung lieber für sich.
    Braby bezwang seine Aufregung, ließ sich würdevoll zu seinen Mitstreitern herab und sprach heiser, aber in gemessenem Ton, als habe er sich soeben vom königlichen Kissen erhoben und den Ritterschlag bereits empfangen: »Ich rede mit Aldous, dann begleite ich ihn persönlich zu den Konstruktionszeichnern. Wir benötigen ordentliche Zeichnungen. Die sollen sich mit ihm zusammensetzen, und inzwischen können Mike, Sie und die anderen die Berechnungen anstellen, Sie wissen schon, das Brecht'sche Gesetz und so weiter.«
    »Das Betz'sche Gesetz.«
    »Genau.« Und weg war er.
    Als Beard seinen Rundgang beendet hatte, setzte er sich mit einem Teller Schokokekse und einem Becher abgestandenem Kaffee aus der Maschine in den leeren Gemeinschaftsraum
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