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Solange am Himmel Sterne stehen

Solange am Himmel Sterne stehen

Titel: Solange am Himmel Sterne stehen
Autoren: Kristin Harmel
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es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass Ted es vielleicht die ganze Zeit gewusst hat. Damals stand ich noch in den Verzeichnissen. Ich war noch nicht nach Amerika gegangen; ich kam erst 1952 hierher. Ich ließ nichts unversucht, um gefunden zu werden, denn ich glaubte nicht, dass Rose umgekommen war. Ich glaubte, dass sie überlebt hatte und dass wir einander wiederfinden würden.
    Ich nehme an, wir werden nie erfahren, was wirklich passiert ist«, fährt er fort. »Aber wenn dein Großvater nach Hause gekommen ist und deiner Großmutter erzählt hat, ich wäre tot, dann wusste er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit, dass das eine Lüge war.«
    »Um das Leben zu schützen, das er mit ihr begonnen hatte«, sage ich. Auf einmal fröstelt mich, und ich beuge mich näher zum Feuer vor.
    Jacob nickt. »Ja, ich glaube schon. Aber kann ich ihm das verdenken? Er hat Rose geliebt, und er hat Josephine geliebt, die seine Tochter geworden war. Er hatte sich mit ihnen ein gutes Leben aufgebaut. Wenn Rose erfahren hätte, dass ich überlebt hatte, dann hätte er vielleicht alles verloren. Er tat, was er konnte, um seine Familie zu schützen. Und das kann ich ihm nicht zum Vorwurf machen. Ehrlich gesagt, habe ich doch genau dasselbe getan, oder? Ich habe Entscheidungen getroffen, um die Leute zu schützen, die ich am meisten liebte. Wir alle treffen Entscheidungen oder erbringen Opfer für das, was wir für das größere Gut halten.«
    Ich schlucke den Kloß im Hals hinunter. »Aber wenn das stimmt, dann hat er verhindert, dass ihr beide, du und meine Großmutter, wieder zusammenkommen konntet. Er hat euch siebzig Jahre lang getrennt.«
    »Nein, Liebes«, sagt Jacob. »Es war der Krieg, der uns getrennt hat. Die Welt war aus den Fugen, und dein Großvater war für die Folgen davon auch nicht mehr verantwortlich als ich oder Rose. Wir alle haben unsere Entscheidungen getroffen. Wir alle mussten mit dem leben, was wir bereuten.«
    »Es tut mir im Herzen weh«, sage ich. Ich habe das Gefühl, mich bei Jacob dafür entschuldigen zu müssen, was mein Großvater getan hat, und für das entsetzlich unfaire Los, das ihm beschieden war. Aber er schüttelt nur den Kopf.
    »Nicht doch«, sagt er. »Deine Großmutter hat mich kurz vor ihrem Tod gebeten, ihr zu verzeihen; sie hatte das Gefühl, mich verraten zu haben, indem sie Ted heiratete. Aber ich habe ihr gesagt, es gebe keinen Grund, ihr zu verzeihen, denn sie hatte nichts Unrechtes getan. Gar nichts. Sie handelte so, wie sie es tat, da sie glaubte, es sei das Richtige für unsere Tochter. Das Entscheidende ist, dass Rose überlebt hat. Und Josephine. Und du und Annie. Egal, was passiert ist, Rose hat das Kind gerettet, das wir zusammen gezeugt hatten, die größte Erklärung unserer Liebe, und ihm das Leben geschenkt, das wir uns immer erträumt hatten, ein Leben in Freiheit.«
    »Aber du hast dein ganzes Leben damit verbracht, auf sie zu warten«, sage ich.
    Er lächelt. »Und jetzt habe ich sie gefunden. Ich habe meinen Frieden gefunden.« Er nimmt wieder meine Hände und sieht mir lange in die Augen. »Ihr seid unser Vermächtnis. Du und Annie. Ihr müsst eure Herkunft in Ehren halten, jetzt, da ihr sie kennt.«
    »Aber wie?«
    »Indem ihr euren Herzen folgt«, sagt Jacob. »Das Leben wird kompliziert. Umstände reißen uns auseinander. Entscheidungen bestimmen über unser Schicksal. Aber dein Herz wird dir immer die richtige Richtung aufzeigen. Deine Großmutter hat das immer gewusst.«
    Ich lasse den Kopf hängen. »Aber woher soll ich wissen, was ich tun soll?« Ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass mein Herz mir immer nur Ärger eingebracht hat.
    »Du wirst es wissen«, sagt Jacob. »Hör einfach zu. Die Antwort liegt in dir.«
    Am nächsten Morgen, als ich mich auf den Weg zur Bäckerei machen will, sehe ich Jacob im Wohnzimmer sitzen, wo er aus dem Fenster starrt, an derselben Stelle, an der ich ihn am Abend zuvor zurückgelassen habe. Ich frage mich, ob er sich die Sterne ansieht, so wie Mamie es immer getan hat.
    »Hey, Jacob«, sage ich, während ich mir meine Schlüssel vom Küchentisch schnappe. »Ich muss los. Wenn du Lust hast, komm doch später bei der Bäckerei vorbei. Ich werde dir ein Sterntörtchen backen.«
    Als er keine Antwort gibt, gehe ich hinüber zu seinem Sessel und knie mich neben ihn. »Jacob?«
    Er hat die Augen geschlossen, und ein leises, friedliches Lächeln liegt auf seinem Gesicht, als wäre er mitten in einem Traum, aus dem er nicht
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