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Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Solang die Welt noch schläft (German Edition)

Titel: Solang die Welt noch schläft (German Edition)
Autoren: Petra Durst-Benning
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ganze Stadt hätte ihr gut gefallen!
    Eine Weile lang hatte sie lustlos zugeschaut, wie sich ihr kleiner Bruder über irgendwelchen Hausarbeiten abmühte, dann war sie zu ihrer Freundin Clara gegangen, die vier Häuser weiter wohnte.
    Clara war wieder einmal krank gewesen. Wie eine Königin hatte sie inmitten ihrer blütenweißen bestickten Bettwäsche gethront. Zeitschriften, ein Glas tiefroter Beerensaft, eine Schale mit Gebäck aus der Konditorei Ratsmann – bei der Familie Berg wurde das Kranksein stets zelebriert, als handle es sich um eine Geburtstagsfeier. Seit Clara im Alter von sieben Jahren fast an einer Blinddarmentzündung gestorben war, hätte ihre Mutter Sophie sie am liebsten für immer in Watte gepackt. Josefine war deswegen fast ein wenig neidisch gewesen, denn bei ihr zu Hause hatte es immer nur geheißen: »Beeil dich mit dem Gesundwerden, vom faul im Bett Herumliegen wird die Arbeit nicht getan.«
    Sie hatten die Zeitschriften angeschaut, und Clara hatte sich dabei in ein Modellkleid verliebt. Jo war es sehr schwer gefallen zu glauben, dass Clara und ihre Mutter extra in ein Atelier auf dem Boulevard Kurfürstendamm fahren würden, um solch ein Kleid zu erstehen. Die Schürzen und Kleider, die Josefine und ihre beiden älteren Schwestern trugen, gab’s im Kaufhaus Reutter gleich um die Ecke. Als »chic« konnte man sie weiß Gott nicht bezeichnen.
    Bald wurden Josefine die Zeitschriften langweilig. Sie schlug Clara vor, Frieda zu besuchen. Die alte Nachbarin würde ihnen bestimmt eine Limonade anbieten, und sie konnten bei ihr im Garten sitzen. Außerdem war es bei Frieda immer interessant, denn die alte Witwe lebte ein Leben, von dem sie nur träumen konnten: ohne lästige Regeln und Pflichten, ohne einen starren Tagesablauf. Seit ihr Mann gestorben war, tat Frieda nur noch das, was ihr gefiel. Josefine bewunderte sie dafür sehr.
    Doch Clara schüttelte nur mit dem Kopf. »Ich bin doch krank. Und davon abgesehen – Mutter sieht es nicht gern, dass ich Frieda so oft besuche. Sie ist jemand, der anderen schnell einen Floh ins Ohr setzt, hat sie erst gestern gesagt.« Es folgte das Schulterzucken, das für Clara so typisch war und nach dem man genauso schlau war wie zuvor.
    Aus Mitleid mit der kranken Freundin war Josefine geblieben, doch sie hatte dabei das Gefühl gehabt, es keine Minute länger in Claras Zimmer mit seinem durchdringenden Lavendelgeruch und der Tapete mit dem auffälligen Blumenmuster auszuhalten. Abrupt war sie vom Stuhl aufgestanden und ans Fenster getreten, um es zu öffnen.
    Die an Werktagen so belebte »Luisenstadt« war an diesem Tag wie ausgestorben gewesen. Das Viertel, das den Namen von Luise, der Gattin von König Wilhelm III., trug, grenzte im Westen an die Lindenstraße, im Süden an den Landwehrkanal und im Osten an eine Parkanlage mit dem Namen »Schlesischer Busch«. In Laufweite gab es alles, was die Bewohner fürs tägliche Leben benötigten: ganz vorn an der Ecke das große Kaufhaus Reutter, wohin man jedoch nicht alle Tage ging. Dazu Bäcker, Fleischer, Kolonialwarengeschäfte, ein Schuster und zwei Schneider. Die Apotheke von Claras Vater und die Hufschmiede vom Schmied-Schmied lagen, nur durch drei Häuser getrennt, in der langgezogenen Görlitzer Straße hinter dem Lausitzer Platz. Gegenüber der Apotheke standen ein paar schmale Wohnhäuser und dazwischen ein einzelnes kleines Häuschen, das jedoch den größten Garten in der ganzen Straße besaß. In diesem Häuschen wohnte die alte Frieda. Direkt an ihren Garten grenzte in südlicher Richtung der Görlitzer Bahnhof an – die Geräusche der an- und abfahrenden Züge waren im ganzen Viertel zu hören. Ging man weiter die Straße entlang, kam man an einer Seilerei vorbei, die zwei mürrischen alten Brüdern gehörte. Daneben gab es noch den Eisenwarenladen der Ottos, der von einem pompösen Schild geziert wurde. Das untere Ende der Straße wurde völlig von der Bekleidungsfabrik des Unternehmers Moritz Herrenhus eingenommen. Die verwinkelten Fabrikgebäude, die von Jahr zu Jahr größer wurden, reichten fast bis in den Schlesischen Busch hinein. Auch eine Wäscherei und eine kleine Fabrik, die Drahtbügel für Korsette herstellte, waren in diesem unteren Teil der Straße zu finden. Doch das Viertel vollzog einen Wandel, der niemandem, der Augen im Kopf hatte, entging: Immer mehr alte Handwerksbetriebe schlossen, weil sich die Arbeit nicht mehr rentierte, andere zogen an den Stadtrand, wo sie genügend
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