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Sohn des Meeres

Sohn des Meeres

Titel: Sohn des Meeres
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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richtete ihren Oberkörper auf, was ihr sichtlich schwerfiel. Ihr weißes, langes Haar umgab ihren Kopf wie eine lebendige Wolke und die goldenen Augen fixierten Vincent. Sie fauchte, aber das kannte er schon und ließ sich nicht weiter davon beeindrucken. Sie versuchte, ihn auf Anstand zu halten, aber er gab nicht auf. Und schließlich hatte er es auch geschafft, sie zum Umzug in diese Höhle zu überreden. Ihr Unterleib war von der Schwangerschaft stark angeschwollen und ihr Instinkt gebot ihr, alle Männer in ihrer Nähe zu verjagen. Aber Vincent wusste besser als sie, was jetzt zu tun war. Es gab Dinge, von denen sie keine Ahnung hatte. Sie kannte das Land und die Menschen nicht. Er musste sie schützen und Entscheidungen für sie fällen. Wieder sirrte er sie an. Ihre Sprache war schlichter als die der Menschen, die ganze Kommunikation einfacher und beschränkt auf wesentliche Inhalte des Lebens. Es gab keine rein theoretischen Debatten und Grundsatzdiskussionen unter Sirenen. Das war etwas, das Vincent vermisste. Aber darauf kam es in diesem Moment nicht an.
    Ich bin wieder zurück. Geht es dir gut. Bist du hungrig.
    Entferne dich.
    Nein.
    Ich kann dich hier nicht brauchen.
    Immer dasselbe. Vincent hoffte, dass sie ihm später sein Kind nicht verweigern würde. Und für die Geburt selbst hatte er vorgesorgt. Im Gang zu der Höhle lag eine kurze Eisenstange, mit der er seine Frau zur Not niederschlagen würde, wenn sein Kind ohne Kiemen zur Welt kam. Dann blieben ihm nur Sekunden, um das Baby in die wasserdichte Röhre zu schieben, diese mit Luft zu füllen und es zur Oberfläche zu transportieren, in der Hoffnung, dass es wenigstens funktionierende Lungen besaß. Aufgrund seiner eigenen Gene durfte er keinen Fall ausschließen. Natürlich konnte es auch glücklich enden und sein Kind war gesund und normal entwickelt. Und bis er das wusste, schlief er kaum eine Nacht durch.
    Lass mich allein..
    Nein. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin nicht wie die anderen Männer. Das habe ich dir bewiesen.
    Ich muss allein sein.
    Nein, ich helfe dir. Ich werde unserem Kind nichts antun. Ich tue alles, um es zu schützen.
    Du wirst dich ändern. Sie sah ihn abweisend an, misstrauisch, und Vincent konnte kaum glauben, dass dies dasselbe Wesen war, mit dem er früher so viel Zeit verbracht hatte.
    Ich ändere mich nicht. Ich beschütze euch. Das wirst du sehen.
    Vincent zog sich zurück. Es brachte nichts, sie zu bedrängen, aber er musste sie an seine Präsenz gewöhnen und zwar rechtzeitig. Er schwamm den dunklen Gang entlang zum Ausgang. Die Sauerstoffflaschen wollte er an verschiedenen Stellen griffbereit positionieren. Und dann brauchte er etwas Schlaf. Er kam selten genug dazu, sich auszuruhen.
     

 
    Es geschah drei Tage später. Vincent kehrte von der Nahrungsbeschaffung zurück, als er die leisen Schmerzlaute hörte. Sofort versetzte sich sein Geist in höchste Alarmbereitschaft. Er schoss den Gang entlang und sah sich hektisch um. Sie lag am Boden und hatte sich bereits verwandelt. Für die Geburt hatte sie Beine ausgebildet und ähnelte nun einer menschlichen Frau mit sehr heller Haut und weißem Haar. Nur ihre Augen blieben goldfarben und verrieten ihre Andersartigkeit.
    Sie fauchte schwach, als sie ihn sah, und Vincent hielt angemessenen Abstand. Sie krümmte sich vor Schmerzen, aber dabei konnte er ihr nicht helfen, das wusste er. Schnell wendete er ab und schwamm in den Gang, wo er seine Notfallausrüstung deponiert hatte. Er brachte die Sachen in die Höhle, legte sie aber außerhalb ihrer Sichtweite ab, sonst würde sie vor Angst durchdrehen. Dann glitt er nach oben und kontrollierte das Gitter. Wenn er sein Kind nach draußen tragen musste, wollte er die Höhle durch diesen Ausgang verlassen.
    Vincent ließ sich wieder zu Boden sinken und zog sich so weit zurück, dass er seine Frau im Blick hatte, sie sich aber nicht so bedroht fühlte.
    Es vergingen gefühlte Stunden und Vincent beobachtete besorgt das schwindende Tageslicht. Dunkelheit würde das alles sehr erschweren. Er hatte schon über eine Lampe nachgedacht, aber die würde seine Frau zu Tode erschrecken, also blieb ihm nichts, als zu hoffen und zu warten. Die Sirene sirrte und fauchte vor Schmerzen und wand sich hin und her. Blut strömte ins Wasser und Vincent fühlte Adrenalin durch seine Adern schießen. Er schwamm näher, ungeachtet dessen, dass die Sirene ihn mit letzter Kraft anfauchte. Die nächsten Sekunden würden entscheiden,
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