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Sohn des Meeres

Sohn des Meeres

Titel: Sohn des Meeres
Autoren: Isabell Schmitt-Egner
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was er tun musste und ob sein Kind eine Überlebenschance hatte. Wieder bildete sich eine Blutwolke im Wasser, diesmal eine größere und Vincent sah ein kleines Bündel zu Boden gleiten. Die Nabelschnur riss sofort und die Sirene griff nach dem Säugling und zog ihn an ihre Brust, wo sie ihn schützend festhielt. Sofort war Vincent an ihrer Seite. Wieder fauchte sie aggressiv und drehte sich von ihm weg, aber er griff beherzt zu und packte sie an den Armen. Dann zog er sie aus der Blutwolke heraus ins Frischwasser, in das letzte Licht des Tages, das durch das Gitter fiel. Der Säugling lag in ihren Armen und Vincent sah die kleinen Kiemen hinter seinen Ohren. Sein Kind besaß Kiemen! Aber sie bewegten sich nicht. Das Baby öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Vincent dachte fieberhaft nach ... die Eisenstange, der Behälter ...
    Wasser strömte durch die winzigen Kiemenschlitze. Er blinzelte und sah genauer hin. Der Säugling pumpte mit kurzen, noch ungeübten Bewegungen Wasser durch seine Kiemen. Die Sirene fauchte und Vincent sirrte ihr beruhigend zu. Sein Kind atmete! Es atmete selbstständig! Unendlich erleichtert ließ er seine Frau los und schwamm rückwärts von ihr fort, damit sie sich beruhigen konnte. Sie sank auf den Sandboden und blieb dort mit dem kleinen Meermenschenkind liegen. Nach einer Weile begann sie, den Säugling mit der Hand sanft abzureiben, um die letzten Spuren der Geburt zu entfernen. Vincent sah, wie das Kleine seine winzige Flosse bewegte und ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Leise, gutturale Sirrlaute drangen aus der Kehle der Sirene. Das Baby gab glucksende Geräusche zurück. Wieder antwortete die Mutter und Vincent lauschte versonnen und still. Vielleicht handelte es sich um einen Prägungsvorgang. Noch hatte er die Hoffnung nicht begraben, dass sie ihn auch mal an das Kleine heranließ.
     
     
    Stunden später hatte die Sirene sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt. Den Säugling hatte sie an ihre Brust gelegt und er trank sich satt, wobei er die kleine, noch weiche Fluke einrollte. Danach war er eingeschlafen und seine Mutter mit ihm. Vincent legte sich in die Nähe der beiden auf den Boden. Der Eingang war gut gesichert durch das Gitter und es war entspannend, ohne Angst vor Räubern schlafen zu können. Und in dieser Nacht schlief er zum ersten Mal seit Wochen sorgenfrei ein.
     
     
    Die nächsten Tage verbrachte Vincent in der Höhle, wenn er nicht gerade Nahrung beschaffte.
    Sein kleiner Sohn schlief die meiste Zeit. Und es war ein Sohn, wie Vincent am Tag nach der Geburt sehen konnte, denn sein Fischleib schimmerte bläulich wie sein eigener und nicht weiß-silbern, wie bei einem Mädchen. Oft lag er in den Armen seiner Mutter oder sie legte ihn in die Rundungen ihres Fischschwanzes, wenn sie selbst etwas essen wollte. Immer wieder versuchte Vincent, sich ihr zu nähern, aber sie ließ nicht zu, dass er eine Distanz von drei Metern unterschritt. Weiterhin übte er sich in Geduld, auch wenn er sich nichts sehnlicher wünschte, als das Kleine endlich berühren zu dürfen. Er zählte die Tage und nach und nach bildete sich ein gewisses Vertrauensverhältnis. Sie schien zu begreifen, dass von ihrem Mann keine Gefahr ausging, dass er sich das Gesagte hielt. So etwas wie Versprechen gab es nicht unter den Sirenen, sie reagierten spontan und unberechenbar. Vincent wusste darum und stellte sich darauf ein, dass er es nur über die Zeit schaffen konnte, seine Familie für sich zu gewinnen. Jeder andere Meermann hätte sich inzwischen nach weiteren Damen umgesehen, die ihn in ihrer Nähe duldeten und sie umworben. Für Männer war es schwer in den heutigen Ozeanen noch eine Frau zu finden. Die Sirenen benahmen sich launisch und abweisend und Vincent hatte sich in den letzten Jahren zu einem wahren Profi der Brautwerbung gemausert. Er wusste die Frauen charmant zu umgarnen, ohne das grobmotorische Gehabe der anderen Sirenenmänner ins Spiel zu bringen. Dass er die ganze Schwangerschaft über seiner Erwählten zur Seite stand, war ungewohnt für sie und trotz all der positiven Erfahrungen änderte sich ihr Misstrauen ihm gegenüber kaum. Aber seit der Geburt glaubte er, einen kleinen Aufwärtstrend feststellen zu können. Immer öfter legte er sich auf den Bauch in den Sand, stützte den Kopf in die Hände und beobachtete Frau und Kind. Dabei führte er weiche Flossenschläge aus, um seine Harmlosigkeit zu demonstrieren. Der Gesichtsausdruck der Sirene
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