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So zärtlich war das Ruhrgebiet

So zärtlich war das Ruhrgebiet

Titel: So zärtlich war das Ruhrgebiet
Autoren: Laabs Kowalski
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Winter
verkaufte Omma Burbaum anstatt Eis Hustenbonbons.
     
    Das kleine Mädchen stand verängstigt an eine Hauswand in
der Nordstadt gelehnt. Sein verweintes Gesicht starrte vor Schmutz, und seine
Kleidung wirkte verwahrlost. Es war allerhöchstens vier, und von seinen Eltern
war weit und breit niemand zu sehen. Die Kleine hatte sich augenscheinlich
verlaufen. Mama zögerte nicht eine Sekunde, sondern nahm sie kurzerhand mit.
    Bei uns zu Hause stellte sich
heraus, dass das Mädchen nicht nur ziemlich verwahrlost, sondern auch
ausgesprochen hungrig war. Es aß drei große Pfannkuchen, zwei Teller Suppe und
ein halbes Brot, und dazu trank es einen Liter Milch, dann wurde die Kleine von
Mama in die Badewanne gesteckt. Gerade als sie blitzeblank geschrubbt war und
von Mama zu Bett gebracht wurde, kehrte unser Vater von der Arbeit zurück. Mama
teilte ihm mit, dass sie ein kleines Mädchen auf der Straße aufgelesen habe und
von seinen Pfannkuchen, die er doch so gerne aß, leider keiner übrig war.
             Vater besah sich die Kleine und erklärte, man
müsse die Polizei verständigen. Bestimmt sei sie ihren Eltern abhanden
gekommen, und die säßen nun zu Hause und machten sich Sorgen.
             „Wenn es die Art von Eltern wären, die sich um
ihre Kinder sorgen, hätten sie ja wohl besser auf sie aufgepasst“, erwiderte
Mama. „Jetzt schläft sie erst einmal, zur Polizei können wir auch morgen noch
gehen. Oder willst du, dass das arme Kind die Nacht womöglich auf der Wache
verbringt? Und hast du gesehen, wie mager sie ist? Bestimmt bekommt sie zu
Hause nicht genügend zu essen. Warum also hast du es so eilig, ihn loszuwerden,
diesen kleinen, süßen Wurm? Manchmal glaub‘ ich, du hast überhaupt kein Herz,
Hans-Jürgen!“
             Papa seufzte und streichelte statt einer Antwort
die Katze, die Mama ein Jahr zuvor von einem Spaziergang mitgebracht hatte. Ihr
Name war Maunz, wie das kleine Schild an ihrem Halsband verriet. Er stand
direkt über der Adresse, bei der man sich melden sollte, falls man Maunz
irgendwo fand.
             Mama ging ins Kinderzimmer, um noch einmal nach
der Kleinen, die sie Franziska getauft hatte, zu schauen. Unser Vater starrte
mich und meinen kleinen Bruder an, ging, noch immer schweigend, in die Küche
und scheuchte Rübe, den Labradorrüden, den unsere Mutter zwei Jahre zuvor auf
einer Kirmes aufgelesen hatte, von seinem Lieblingsplätzchen vor dem
Kühlschrank auf. Er holte einen verdorrten Apfel heraus und biss mit
sichtlichem Missmut hinein. Sein Abendbrot noch in der Hand, machte Papa sich
daran, unsere Tanzmäuse zu versorgen, die uns eine ehemalige Nachbarin anlässlich
ihres Auszugs vererbt hatte. Sie waren innerhalb von nur vier Wochen derartig
zahlreich geworden, dass wir dazu übergegangen waren, sie nicht nur in Käfigen,
sondern auch in Schuhkartons und großen Töpfen unterzubringen, die nun überall
herumstanden: auf dem Boden, auf dem Kühlschrank, den Fensterbänken, auf dem
Wohnzimmerschrank und dem Schwarzweiß-Fernseher, den wir damals noch hatten. Doch
das eigentlich Anstrengende war nicht, die Mäuse zu versorgen, sondern sie vor
Maunz zu beschützen, die übrigens auch Helmut, dem Wellensittich, der uns
zugeflogen war, immer wieder nachstellte, als kriege sie nicht genügend Futter
von uns. Doch wenn irgendjemand bei uns hungerte, dann ganz allein unser Vater,
für den zumeist nichts übrig blieb.
             Als die Mäuse sich so sehr vermehrt hatten, dass
wir bereits gezwungen waren, uns zu ihrer Unterbringung Schuhkartons nicht nur
von den Nachbarn, sondern auch von Fremden zu leihen, sah uns unser Vater eines
Abends an und sagte: „Wirklich, Kinder, ich wünschte, eurer Mutter würde
allmählich mal eine Boa Constrictor zukriechen! Futter für sie hätten wir
jedenfalls genug.“
             Mit diesen Worten schloss er die Wohnungstür
hinter sich und zog los, um mit einigen Freunden und Onkel Catcher Karten zu
spielen.
             Obwohl unser Vater unsere Mutter meist gewähren
ließ, erwies er sich im Falle von Franziska als unnachgiebig und bestand am
anderen Morgen, als er zur Arbeit ging, darauf, Mutter müsse mit der Kleinen
auf die Wache. Also zog uns Mutter, nachdem er fort war, nacheinander an,
fasste Franziska bei der Hand, und brach mit uns auf. Unterwegs fiel ihr jedoch
ein, dass man die Polizei ja gar nicht unbedingt mit der Sache behelligen
musste. Vielleicht fanden sich die Eltern des
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